Rückblick Höhe- und Tiefpunkte des Literaturjahrs 2022
Was war wichtig? Über was wurde gestritten? Welche Romane sollte man nicht versäumt haben? Wir lassen die wichtigsten Momente des literarischen Lebens dieses Jahres noch einmal Revue passieren.
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Dieses Bild bleibt: Kim de l’Horizon legt in der Dankesperformance für den Deutschen Buchpreis sein Haar dem Kampf der Frauen im Iran zu Füßen.
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Was hat man nicht alles befürchtet, mit welchem Coup Michel Houellebecqs Roman in das Jahr, in dem in Frankreich eine Wahl anstand, hineinplatzen würde. Zumal bei einem Titel wie „Vernichten“. Doch anders als die öffentliche Figur Houellebecq ist die des Autors gleichen Namens kein Eiferer belletristisch verpackter Gegenwartsdeutung. Den politischen Innenansichten, die sich der Freundschaft mit dem amtierenden französischen Wirtschaftsminister verdanken mögen, steht die melancholisch-heitere Erfahrung von Vergänglichkeit gegenüber: Krankheit, Alter, Tod – und das, was menschliche Nähe und Verbundenheit dem entgegenzusetzen haben.
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Zu den erfreulichen Ereignissen zählt, dass es „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus zum meistverkauften Buch des Jahres gebracht hat. Es handelt von einer talentierten Chemikerin. Als wissenschaftliche Köchin in einer Fernsehshow macht sie die Karriere, die ihr in der von Männern beherrschten akademischen Welt der 1960er-Jahre verweigert bleibt. Ihr emanzipierter Rat an die Zuschauerinnen: „Wenn Sie Ihr Leben gern ändern möchten: Tun sie es jetzt.“
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Zum 90. Geburtstag Alexander Kluges erschienen mit dem „Buch der Kommentare“ und „Zirkus Kommentar“ zwei neue Bände dieses Hochseilartisten in der Manege des Geistes. Kluges Werk beschwört die subversive Kraft einer Korrespondenz, die das Einzelne nicht dem Allgemeinen unterwirft. Sich zwischen intellektuellen Tiefenbohrungen und Zirkuskuppeln in der Schwebe zu halten, ist eine erstaunliche Lebensleistung. Auch wenn manche Verehrung ins Straucheln geriet, als Kluge nach Putins Überfall auf die Ukraine zu den Unterzeichnern diverser umstrittener offener Briefe gehörte.
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Zu einer Zeit, in der Massenereignisse wie die Berlinale wieder stattfinden konnten und sich die Fußball-Stadien füllten, sorgte die überraschende Erklärung der großen Konzernverlage, mit Rücksicht auf steigende Corona-Zahlen an der Leipziger Buchmesse nicht teilnehmen zu wollen, für Empörung. Schließlich blieben die Tore des Frühjahrstreffens der Branche geschlossen. Doch gegen die Trägheit der Großen improvisierten die unabhängigen Verlage kurzerhand in einer ehemaligen Fabrikhalle eine quirlig-lebendige Pop-up-Alternative. So schön es war, so wichtig ist es für Leipzig als Stadt des Buches, dass die Messe in diesem Jahr wieder in gewohntem Rahmen stattfinden wird, wenn auch etwas später als sonst, im Viren-ferneren April.
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Am 24. Februar träumt die ukrainische Verlegerin und Autorin Kateryna Mishchenko in ihrer Kiewer Wohnung, von einem Tsunami überspült zu werden. Sirenen reißen sie aus dem Schlaf. Damit beginnt der Albtraum des Krieges, der seither andauert. „Die Alarmsirenen haben eine neue Welt angekündigt“, sagte sie an diesem ersten Kriegstag im Gespräch mit unserer Zeitung. Putin sei von der Ukraine besessen, aber er könne sie nur akzeptieren, wenn sie tot sei. Viel zu lange lebte man auch hierzulande im Bewusstsein, dass die Ukraine nicht mehr sei als eine irgendwie obskure Spielart des Russischen. Mit dem Beginn von Putins Angriffskrieg schlägt die Stunde der ukrainischen Literatur. Wichtige Preise gehen an Autorinnen und Autoren aus dem geschundenen Land. Und wann, wenn nicht jetzt, sollte man die Bücher von Oksana Sabuschko, Jurij Andruchowytsch, Andrej Kurkow, Serhij Zhadan und all der anderen lesen?
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Auch in Karl Ove Knausgards Roman „Der Morgenstern“ herrscht Endzeitstimmung. Gleichzeitig ist es der Beginn eines neuen erzählerischen Großprojekts, in dem sich Horror-, Gesellschaftsroman und Großessay durchdringen. Über dem Himmel zweier ungewöhnlich heißer norwegischer Sommernächte steht ein bisher unbekanntes Gestirn. Weil sich niemand besser mit den Banalitäten des gesellschaftlichen Alltags auskennt als der norwegische Selbsterforscher, wirkt der Einbruch des Ungewissen umso beunruhigender. Am 15. Februar folgt der zweite Teil des auf fünf Bände angelegten Unternehmens.
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Seit der Jahrestagung in Gotha steht der deutsche Ableger der Schriftstellervereinigung PEN für die erste Arena intellektuellen Schlammcatchens in Deutschland, mit Bratwürsten, Krawall und allem, was dazugehört, spektakulären Auf- und Abtritten samt Kraftausdrücken, wie man sie eher in Kreisen halbseidener Box-Promoter als unter Poeten, Essayisten oder Novellisten vermutet hätte. Mit dem gebrüllten Satz Denis Yücels: „Ich möchte nicht Präsident dieser Bratwurstbude sein, ich trete zurück!“ endet eine kurze Amtszeit. Seitdem gibt es in Deutschland zwei PEN: Das Zentrum in Darmstadt und einen eigenständigen Ableger in Berlin – warum nicht, wenn es dem Schutz des freien Wortes dient.
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Uwe Tellkamps Fortsetzung seines „Turm“-Erfolgs „Der Schlaf in den Uhren“ kann gleich mit mehreren Superlativen aufwarten: einer der meist besprochenen, umstrittensten und schlicht missratensten Romane des Jahres. Die 900 Seiten wirken, als habe man den Autor gezwungen, endlich seine Manuskripte herauszurücken, fertig oder nicht. Krachender sind sperrige Hermetik und platter Populismus wohl selten aufeinander geprallt – ein weiterer Superlativ.
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Es ist nicht so, dass Emine Sevgi Özdamar von den Preisgerichten bisher übergangen worden wäre. Ganz und gar nicht. Wer sich aber noch an das ungläubige Staunen bei der diesjährigen Verleihung des Leipziger Buchpreises erinnert, als diese Auszeichnung nicht an ein Werk ging, das man ohne zu zögern in den Kanon der Weltliteratur einsortiert hätte, sondern mit Tomer Gardis „Eine runde Sache“ an eine heitere Petitesse im Diskursgeschehen zwischen Kritikern – der kann nicht anders, als die Entscheidung der Akademie für Sprache und Dichtung für einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit zu halten: Emine Sevgi Özdamar, die Autorin des in Leipzig so erstaunlich übergangenen Romans „Ein von Schatten begrenzter Raum“, ist die Büchnerpreisträgerin 2022.
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Das Buch des Sommer war ein winterlicher Roman. Mit der „Nacht unterm Schnee“ hat Ralf Rothmann seine Kriegstrilogie beendet, in der sich ein Schriftsteller auf die Suche nach dem von Krieg, Arbeit und Enttäuschung aufgeriebenen Leben seiner Eltern macht. Der Schmerz, den dieses Buch aus dem Stollen der Erinnerung schürft, wird zum kostbaren Stoff für einen in Schrecken und Schönheit überwältigenden Roman. Ralf Rothmanns Werk geht uns an – in diesen Tagen mehr denn je.
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Ist Karl Mays Zurichtung der Welt nordamerikanischer Ureinwohner geeignet, den heute postkolonialistisch genordeten moralischen Kompass junger Leute zu irritieren? Um diese Frage wurde im Sommer aufs erbittertste gestritten. Den Stein ins Rollen brachte ein an Karl-May-Motive lose angelehntes augenscheinlich mehr als verzichtbares Kinderbuch, das auf eine so lieblose Weise den Winnetou-Stoff ausgeschlachtet hat, dass jeder Liebhaber des Radebeuler Geschichtenerfinders eigentlich froh über sein Verschwinden sein müsste. Doch plötzlich fürchten viele, dass ihre Lektüreerinnerungen aus frühesten Zeiten vom Korrektheitsstrom einer angeblichen Cancel Culture mitgerissen werden könnten. Der Karl-May-Verlag lachte sich ins Fäustchen. Im Fahrwasser der Debatte machte er das beste Geschäft seit langem.
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Die Geschichte von Salman Rushdies „Satanischen Versen“ ist im August um ein furchtbares Kapitel erweitert worden, von dem es kurzzeitig so aussah, als könnte es das letzte gewesen sein. Bei einem Literaturfestival, das der Freiheit des Wortes gewidmet war, wurde der Schriftsteller von einem islamistischen Attentäter mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Er überlebte, ist seitdem aber auf einem Auge blind. Umso dankbarer wartet man auf Salman Rushdies neuen Roman „Victory City“, der im April erscheinen wird.
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Kim de l’Horizons „Blutbuch“ ist der deutschsprachige Roman des Jahres: Neben dem Deutschen wird ihm auch der Schweizer Buchpreis zugesprochen. Auf den Spuren unterdrückter Merkmale der eigenen Familiengeschichte macht sich die non-binäre Hauptfigur auf die Suche nach einer Identität, in der Gegensätze zwanglos zusammenfinden. So singulär das Buch, so denkwürdig die Performance, mit der de l’Horizon in Frankfurt alle Preisverleihungsroutinen unterläuft, sich zuletzt als Zeichen der Solidarität mit den aufständischen Frauen im Roman die Haare abrasiert.
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In einer historischen Stunde hat der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan zum Ausklang der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegengenommen. So nah hat in der Frankfurter Paulskirche noch niemand an die schreckliche Realität des Krieges herangeführt. In seiner eindringlichen Rede wird der Appell an die literarische Verantwortung des Bezeugens und Erzählens zu dessen gleichzeitigem Vollzug.
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So sehr das Schreiben der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux um sich selbst zu kreisen scheint, auf der Suche nach einer verlorenen Wirklichkeit, so sehr misst es zugleich den Gedächtnisraum kollektiven Erinnerns aus. Ihre Bücher handeln ebenso von privaten Erlebnissen wie von dem Problem, diese mit dem Prozess des Erinnerns zur Deckung zu bringen. Das Persönliche ist nur das Sprungbrett, ohne Tabus in den Erfahrungsschatz einer Generation einzutauchen. Doch kein Literaturnobelpreis ohne Kontroverse. Kaum wurde die Entscheidung euphorisch begrüßt, machten Unterschriften der Autorin unter einige israelkritische Petitionen der umstrittenen BDS-Bewegung die Runde.
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2022 ist nicht nur der Denker der Klimakatastrophe, Bruno Latour, gestorben, sondern auch jemand, der sich im Bild des fliegenden Robert wiedererkannte. Man hat Hans Magnus Enzensberger einmal als Ein-Mann-Literaturgeschichte der Bundesrepublik bezeichnet. Zweifellos zurecht. Seine Lyrik und Prosa, seine Herausgeberschaften und Trüffelschwein-Verdienste umspannen ein knapp siebzigjähriges schreibendes Dasein. Und sie stehen für Tendenzen eines Sprachkünstlers, dessen Sensorium für die Tendenzen der Zeit so fein ausgeprägt war, dass er nicht nur den Ruf der Stunde klarer als andere vernommen hat, sondern auch als erster ihr unwiderrufliches Vergehen.
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Kann es sein, dass Peter Handke tatsächlich schon 80 Jahre sein soll? Unbeirrt treibt er sein Projekt der Poetisierung der Welt in immer unzugänglichere Winkel. „Zwiegespräch“ heißt sein jüngstes Werk. Darin tritt ein Paar auf. Es „redete in einer Fremdsprache, einer unerhört schönen – und doch war es eine, wie keine Sprache sonst, vertraute.“ Eine Sprache wie diese ist das versöhnliche Versprechen von Handkes lebenslangem Zwiegespräch mit seinen Lesern. Das klingt altersmild, ist aber so eigensinnig und aufregend wie am ersten Tag.
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Alle Wege zu dem Kosmopoliten Rilke führen künftig nach Marbach. Gemessen an dem, was die Chefin des deutschen Literaturarchivs, Sandra Richter, Anfang Dezember in der Berliner Landesvertretung Baden-Württembergs der Öffentlichkeit vorstellt, klingen die Worte der bekanntermaßen äußerst Euphorie-fähigen Kulturstaatsministerin, Claudia Roth, beinahe wie eine Untertreibung: „Vielleicht die wichtigste Nachlass-Erwerbung in der Nachkriegsgeschichte.“ 10 000 handschriftliche Seiten mit Werkentwürfen und Notizen, Zeichnungen, hunderte bisher unbekannte Fotografien aus allen Lebensphasen – auf nach Marbach!