Stuttgarts Umgang mit Bauwerken Abriss-Furor und kein Ende in Sicht
Immer mehr Gebäude, die Stuttgart prägen, fallen der Abrissbirne zum Opfer. Ein Umdenken im Umgang mit der Bausubstanz ist notwendig, fordert der Architekt Roland Ostertag in diesem Gastbeitrag.
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Foto Lichtgut/Achim Zweygarth
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Einige Häuser im Stuttgarter Norden mit repräsentativem Charakter stehen vor dem Abriss. Das Gebäude an der Hölderlinstraße 3 A (Foto), erbaut 1952, war früher Sitz des Metallarbeitgeberverbands. Dort soll ein Mehrfamilienhaus entstehen.
Foto Lichtgut/Max Kovalenko
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Das Schicksal der Villa Bolz am Kriegsbergturm 44 ist besiegelt. Das 1906 von dem Chemiefabrikanten Carl Schuster erbaute Haus am Killesberg ist im Besitz eines Wohnungsbauunternehmens, das an dieser Stelle hochwertige Eigentumswohnungen bauen will. Rechtlich ist ein Abbruch jederzeit möglich, ein Abrisstermin steht jedoch noch nicht. Die Villa Bolz war im vergangenen Jahr Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion. Namhafte Persönlichkeiten, angefangen vom früheren Ministerpräsidenten Erwin Teufel, hatten sich für einen Erhalt der Villa stark gemacht. Der Grund: Von 1932 bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo 1944 lebte hier der frühere württembergische Staatspräsident und Widerstandskämpfer Eugen Bolz (1881-1945) – der ranghöchste Politiker der Weimarer Republik, der von den Nazis ermordet wurde. Ministerpräsident Winfried Kretschmann entschied am Ende, dass das Land das Gebäude nicht kaufen wird. Auch die Stadt Stuttgart zeigte kein Interesse.
Foto Lichtgut/Achim Zweygarth
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Foto Kraufmann
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Die Neckarstraße vom Charlottenplatz bis zum Neckartor war einst eine Prachtstraße Stuttgarts mit zahlreichen Gebäuden mit beeindruckenden Fassaden – im 19. Jahrhundert stattliche Wohnhäuser für die betuchte Bürgerschaft. Nicht alle überstanden den Krieg, mehr als 70 sind aber erst später abgerissen worden, vor allem um Platz für den Autoverkehr zu schaffen. Die letzten vier denkmalgeschützten Gebäude, zwischendrin auch Domizile der Hausbesetzerszene, wurden im Mai 2004 dem Erdboden gleich gemacht. Vorausgegangen war ein Tauschgeschäft zwischen Stadt und Land, das damals die vier Gebäude erhielt und dafür die Landesfrauenklinik in Berg hergab. Auf dem Platz baute das Land für rund 65 Millionen Euro die 2013 bezogenen Bürogebäude mit einer Nutzfläche von fast 20 000 Quadratmetern und Platz für mehr als 600 Mitarbeiter der Ministerien für Inneres, für Umwelt und für Ländlichen Raum. Gebaut wird dort aber noch immer – wegen S 21.
Foto Leif-Hendrik Piechowski
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Bezeichnenderweise ging die Messeära auf dem Killesberg mit der Ausstellung „Babywelt“ im Oktober 2007 nach mehr als 50 Jahren zu Ende. Die 13 Hallen und das Kongresszentrum wurden abgerissen – Platz für Wohnungen und Geschäfte. Dem Abriss zum Opfer fielen auch Teile der unter Denkmalschutz stehenden Bebauung, die Messehalle 6 und Reste der Halle 7, die auf den Fundamenten der „Blumenhalle“ der Reichsgartenschau 1939 errichtet worden waren. Das ist der Ort, an dem Tausende Stuttgarter Bürger jüdischen Glaubens 1941 bis 1944 zusammengetrieben und von dort in den Tod deportiert wurden. An der Außenwand einer Messehalle war das Relief „Weinfreuden“ des Bildhauers Alfred Lörcher aus dem Jahr 1949 angebracht, der Professor an der Kunstakademie war. „Das Relief wäre Wert gewesen, erhalten zu werden, um den Menschen, die Geschichte, das Gedächtnis, die Erinnerung des Areals zu vermitteln“, sagt Roland Ostertag, „doch dafür fehlt in dieser Stadt die Sensibilität“.
Foto privat
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Der Architekt, Dichter und Maler Hermann Finsterlin, geboren 1887 in München, lebte fast 50 Jahre bis zu seinem Tode 1973 in Stuttgart. Das nach der Lehre Rudolf Steiners vom anthroposophischen Architekten Felix Kayser 1928 erbaute Holzhaus auf dem Frauenkopf stand inmitten eines großen Gartens. Dorthin war Finsterlin gezogen, um seinen Kindern eine anthroposophische Ausbildung an der Waldorfschule zu bieten und doch entfernt zu sein von der Stadt, in der er sich nicht wohl fühlte und die den Visionär nicht anerkannte. „So erlebte man Finsterlin als eine Märchengestalt – zurückgezogen in dieser Stadt in einer märchenhaften Umgebung voller Charme, einem Haus aus Holz in einem großen Garten“, sagt Ostertag, der vergeblich dafür plädierte, das herunter gekommene Haus samt verwahrlosten Garten zu erhalten und zu einer Erinnerungsstätte zu machen. Das Haus wurde verkauft und abgerissen, der Garten gerodet. Jetzt werden dort exklusive Eigentumswohnungen gebaut.
Foto Lederer, Ragnasdóttir und Oei
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Obwohl nur wenige Jahrzehnte alt, droht der aus zwei verschiedenen Baublöcken bestehenden ehemaligen EnBW-Zentrale zwischen Kriegsberg- und Jägerstraße der Abriss. Vor allem wegen des rückwärtigen Teils, vom bekannten Stuttgarter Architekturbüro Lederer, Ragnarsdóttir und Oei entworfen und erst 1997 fertiggestellt, ist dies sehr umstritten. Der ehemalige EnBW-Chef Wilfried Steuer, unter dessen Ägide das ungewöhnliche und mehrfach preisgekrönte Gebäude mit der Klinkerfassade entstand, spricht von einer Schande, wenn es abgerissen würde. Abbruchpläne hat die Reiß & Co Real Estate mit Sitz in München bereits bei der Stadt hinterlegt, beim Baubürgermeister Peter Pätzold stoßen sie auf wenig Gegenliebe. Ob deshalb ein neuer Bebauungsplan für Büros und Wohnungen zustande kommt, der dem Investor gefällt, ist noch offen. Steuer rühmte das später mit renommierten Architekturpreisen überhäufte Gebäude bei der Einweihung mit den Worten: „Nach 70 Jahren hat Stuttgart wieder einen mit dem Bonatz’schen Hauptbahnhof vergleichbaren Bau erhalten.“
Foto Lichtgut/Max Kovalenko
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Modernisierung oder Abriss von billigen Wohnungen und Verdrängung der alteingesessenen Bewohner – diese Frage stellt sich an mehreren Stellen. Im Stuttgarter Osten ist ein Wohngebäude an der Klingenstraße bereits abgerissen worden, andernorts gibt es ähnliche Pläne. Im Hallschlag finden in der Dessauer und Lübecker Straße Abbrucharbeiten statt, in der Beethovenstraße in Botnang sollen Gebäude weichen. Die Baugenossenschaft Neues Heim will an der Fürfelder Straße in Zuffenhausen Häuser mit 40 Wohnungen abreißen, in Rot sollen an der Fleiner Straßen 60 Wohnungen durch Neubauten ersetzt werden. In der Zuffenhausener Keltersiedlung formiert sich Widerstand gegen Abrisspläne der SWSG. Immer wieder wird der Ruf nach einer Erhaltungssatzung laut: Dieses Instrument hatte die Stadt zuletzt im Sommer 2012 eingesetzt, um den vom Bau- und Heimstättenverein geplanten Abbruch der vom Architekten Karl Beer geplanten Wohnbauten in der Wagenburgstraße 149 bis 153 zu verhindern.
Foto Eveline Blohmer
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Die Zukunft des MAN-Hauses in Sillenbuch ist mittlerweile ein Fall für den Landtag. In einer Petition fordern die Anwohner Alexander Prinz von Ratibor und Corvey und seine Frau, dass die von der Denkmalschutzbehörde erteilte Abrissgenehmigung wegen Rechtswidrigkeit zurückgezogen wird. Das Gebäude an der Oberwiesenstraße ist noch eines von rund 40 in Deutschland stehenden Fertighäusern der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN), die in den Jahren 1948 bis 1953 gebaut wurden. Zwar ist die Denkmalwürdigkeit wegen des Stahlgerüsts unbestritten, dies sei aber bei der Abrissgenehmigung nicht bekannt gewesen, sagen die amtlichen Denkmalschützer, die sich zudem darauf berufen, dass eine Sanierung zu teuer sei und die denkmalwürdige bauliche Substanz schädigen würde. Zwei Bauträger wollen auf dem MAN-Haus-Grundstück und einem Nachbarareal vier Gebäude mit 18 Eigentumswohnungen bauen. Neben einem Abriss des MAN-Hauses kommt auch eine Versetzung in Frage.
Foto Lichtgut/Leif Piechowski
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Die Zukunft der ehemaligen Firmenzentrale von IBM am Stuttgarter Autobahndreieck ist nach wie vor offen. Wird auf dem Areal ein lebendiges und hochmodernes Viertel mit einem Mix aus Wohnen und Arbeiten unter Erhalt der denkmalgeschützten Gebäude entstehen oder wird das Areal doch platt gemacht, weil sich für den Käufer, die Gerch Group mit Investor Mathias Düsterdick, nichts anderes rechnet? Zuletzt jedenfalls sollen die neue Besitzer ziemlich offen davon gesprochen haben, dass nur ein Abriss in Frage komme, auch wenn dies den Ergebnissen eines Kolloquiums aus dem Jahr 2013 und den auf einer Bürgerbeteiligung im Mai 2016 geäußerten Wünschen widerspricht. Erbaut wurde die Firmenzentrale in den Jahren 1967 bis 1972 nach Plänen des Architekten Egon Eiermann, seit gut sieben Jahren und viel Gerangel steht sie leer. Die Stadt plädiert für den Erhalt, doch auch Baubürgermeister Peter Pätzold weiß: „Mit jedem Winter stehen die Chancen schlechter, die Gebäude zu erhalten.“