Am 1. Mai wollen die Gewerkschaften ihre Mitglieder für die Europawahlen mobilisieren. Dabei haben sie selbst Nachholbedarf: Während die EU sich zügig weiter entwickelt, bereitet die grenzübergreifende Kooperation den Arbeitnehmerverbänden noch Probleme.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Längst hat sich so etwas wie eine Feiertagsroutine eingestellt bei den Gewerkschaften. Der 1. Mai ist eher ein Familientreffen mit mehr oder minder packenden Reden vorneweg als der Internationale Kampftag der Arbeiter. Dennoch lassen sie daran nicht rütteln: „Der 1. Mai ist für uns Gewerkschafter wie Weihnachten oder Ostern für die Christen“, pflegt der Chef des Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, zu sagen. Es sei der Tag, an dem die Arbeitnehmer deutlich machen: Wir sind diejenigen, die das Land zusammenhalten und voranbringen.

 

Routine soll diesmal schon wegen der nahen Europawahlen nicht aufkommen. „Gute Arbeit. Soziales Europa“ lautet das Motto der DGB-Kundgebungen. Es ist nicht das erste Mal, dass Europa derart hervorgehoben wird – schon 1989 lautete die Parole: „Für ein soziales Europa“, und 2004 hieß es auf den Plakaten: „Unser Europa – frei gleich gerecht“. Auch 2012 und 2013 ging es um die soziale Sicherheit in Europa.

Diesmal ist der 1. Mai nicht nur der übliche Tag der Selbstvergewisserung, sondern soll auch den eigenen Anhang dazu motivieren, am 25. Mai wählen zu gehen. „Wir wollen ein sozialeres und demokratischeres Europas“, sagt der DGB-Landesvorsitzende Nikolaus Landgraf. Deshalb sei es so wichtig, dass die Mitglieder an der Wahl teilnehmen. Das „schwierige und sperrige Thema“ den Arbeitnehmern zu vermitteln, ist gar nicht so leicht, hat er festgestellt. Die Ablehnung von Brüsseler Entscheidungen ist offenkundig, und oft sind die Zusammenhänge auch nicht geläufig. Folglich „ist da ein Bruch zwischen dem, wie wir Europa diskutieren – und wie es bei den Menschen ankommt“, sagt Landgraf.

„Keine demokratische Entscheidungen“

DGB-Chef Sommer, der am Donnerstag in Bremen auftritt, betont gegenüber der StZ: „Mein Problem mit Europa ist: Wir wissen, dass immer mehr in Europa entschieden wird – aber es wird eben nicht demokratisch entschieden. Sie haben teilweise die europäischen Verträge außer Kraft gesetzt, um machtpolitisch neokonservative Politik zu betreiben.“ Das Europaparlament sei zwar demokratisch gewählt, dennoch bleibe es im Prozess der europäischen Einigung immer dritter Sieger hinter den Regierungen der Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission. Das müsse sich ändern. „Es muss alles dafür getan werden, dass das europäische Parlament ein Parlament überzeugter Europäer und nicht zur Bühne von Europagegnern wird.“Grundsätzlich müsse man die Arbeit zwischen den Nationalstaaten und den Institutionen der EU enger verzahnen „und insbesondere dem Europäischen Rat sehr viel intensiver auf die Finger schauen – im Zweifelsfall auch hauen“. Da könnten auch die Gewerkschaften noch lernen: „Dass man mit den europäischen Institutionen und parallel mit den nationalen Institutionen an denselben Problemen arbeiten und diese Arbeit miteinander verschränken muss“, sagt Sommer. „Das ist bislang viel zu wenig im Bewusstsein – es gibt immer noch diese Trennung zwischen Europapolitikern und nationalen Politikern.“

Organisatorische Schwachstellen beim DGB

Er selbst, so gesteht Sommer kurz vor dem Ende seiner Mitte Mai auslaufenden Amtszeit, hat es in den vergangenen Jahren versäumt, beim DGB organisatorische Strukturen zu schaffen, die deutlich machen: es ist ein Politikbereich. Die Themen würden mal mit der europäischen, mal mit der nationalen Seite bearbeitet – aber eben nicht parallel. Daher hofft der DGB-Vorsitzende auf seinen designierten Nachfolger, der einiges nachzuholen hat: „Da wird Reiner Hoffmann die richtigen Zeichen setzen, weil er wegen seiner Erfahrung als stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) weiß, wie es geht“, sagt Sommer.

Von 1994 bis Ende 2009 hat Hoffmann in Brüssel an vorderster Front für die Arbeitnehmerseite gearbeitet und musste dabei wohl feststellen, wie schwer eine grenzübergreifende Kooperation zu bewerkstelligen ist. „Wir haben einen sehr großen Koordinations- und Diskussionsbedarf mit den Gewerkschaften in Europa“, stellt Sommer fest. „Das sind keine einfachen Prozesse, weil die Sichtweisen auf Europa und die Welt sehr unterschiedlich sind.“ Gemeint ist beispielsweise die Forderung der Arbeitnehmer in Griechenland, Italien oder Spanien nach bedingungsloser Solidarität – derweil die Skandinavier nicht bereit sind, diese bedingungslose Solidarität zu gewähren. In Osteuropa steht die Gewerkschaftsbewegung bisher noch auf sehr schwachen Beinen. In Frankreich und Italien wiederum präsentiert sie sich nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich untereinander zerstritten: Was den Umgang mit der Troika- und Reformpolitik angeht, tun sich tiefe Risse auf.

Jeder kämpft für sich – Branche für Branche

Von politischer Einigkeit sind die europäischen Gewerkschaften – sieht man von Fensterreden auf Kongressen ab – also weit entfernt. Im Gegenteil: Oft sieht man sich als Konkurrenz. Die vornehmlich nationalstaatliche Ausrichtung der deutschen Gewerkschaften bringt da wenig Besserung. Jeder kämpft für sich – Branche für Branche. Tarif- und Betriebspolitik hat bei ihnen klar Vorrang vor der Gesellschaftspolitik. Die übergeordnete Idee der Arbeiterbewegung kommt so nicht zum Tragen.

Nur langsam wird die Dringlichkeit der Zusammenarbeit erkannt: Während der DGB längst ein Verbindungsbüro in Brüssel hat, zieht jetzt die IG Metall mit einer eigenen Dependance nach. Landgraf hat in Brüssel die Erfahrung gemacht, dass die baden-württembergische Wirtschaft dort gut vertreten sei. „Da haben wir ein Stück Nachholbedarf“, sagt er. „Wir müssen politisch klarer wahrgenommen werden.“Auf den Ebenen darunter ist die Verständigung nur punktuell weiter gediehen. So hat der baden-württembergische DGB, angelehnt an die multilaterale Arbeitsgemeinschaft „Vier Motoren für Europa“, zwar Kontakte in die Regionen Katalonien, Lombardei und Rhône-Alpes. Doch gemeinsame Projekte sind rar. Im Herbst könnte es Tagungen bei den Partnern etwa zur jeweils exorbitanten Jugendarbeitslosigkeit geben. Die Detailplanung ist noch offen. DGB-Landesvorsitzender Landgraf reist direkt nach dem Wahltag – vom 26. bis 29. Mai – mit dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann samt einer Wirtschafts- und Wissenschaftsdelegation nach Spanien. Im Kern soll es um die jungen Arbeitslosen, die Bildung und den Fachkräftemangel gehen sowie um die Zukunft der Automobilindustrie. Da könnten sich weitere Anknüpfungspunkte ergeben.

Einzelkämpferin in Freiburg

Der DGB hilft den Spaniern von Berlin aus, ein Berufsbildungssystem aufzubauen und die Basis für ihre Tarifpolitik zu erneuern, wie Sommer schildert. Er selbst habe schon viel Arbeitszeit dafür aufgewendet, weil ihm die Kollegen im Süden ans Herz gewachsen seien. Am besten klappt das Zusammenwachsen immer dort, wo sich Funktionäre gezielt für Kooperation engagieren – wie Katrin Distler in Freiburg, wo der DGB-Landesbezirk ein „Büro für europäische Regionalpolitik“ unterhält. Ihr erster Fokus liegt aber auf der grenzübergreifenden Kontaktpflege mit den Schweizern, Österreichern und Elsässern. „Wir versuchen, die Arbeit praktisch auszurichten“, sagt Landgraf. Natürlich müsse man dies intensivieren. Europa- und Landespolitik würden immer wichtiger, also „müssen wir Gewerkschaften da präsenter sein“.

Dass Europa für Arbeitnehmerführer nicht nur Ärger, sondern auch Erfolgserlebnisse mit sich bringt, hat Michael Sommer schon im September 2010 erfahren. „Das Größte, was ich je erlebt habe, war ein Auftritt in Madrid während des Generalstreiks der spanischen Gewerkschaften“, erinnert er sich. „Ich habe vor 800 000 Spaniern auf Deutsch geredet – und die Stimmung war großartig.“ Das werde er im Leben nicht vergessen.