Was hat Facebook in den vergangenen zehn Jahren mit uns gemacht? Es ist zu einer schlechten Gewohnheit geworden, von der man nicht mehr loskommt, findet der StZ-Kolumnist Peter Glaser.

Stuttgart - Innerhalb eines Jahrzehnts hat Facebook das soziale Gewebe der Welt verdrahtet. Mehr als eine Milliarde Menschen – 27 Millionen davon in Deutschland – nutzen inzwischen das Angebot des blauen Molochs, eine stets verfügbare digitale WG auf dem Smartphone mit sich führen zu können oder sie in der Art eines modernen Hausaltars vor sich zu haben. „Das Facebook-Zeitalter hat begonnen und Mark Zuckerberg ist der Mann, der uns dahin gebracht hat“, schrieb das Magazin „Time“ im Dezember 2010, als Zuckerberg zum „Mann des Jahres“ ausgerufen wurde. In dem Leitartikel beschrieb ein Reporter einen Konferenzraum namens „Aquarium“ im damaligen Facebook-Hauptquartier – mitten in einem Großraumbüro und auf drei Seiten durch gläserne Wände einsehbar.

 

No Privacy, alles sichtbar: Es ist eine radikale Offenheit, wie es sie zuvor nur in Beichtstühlen gab, die nun mit Facebook gewissermaßen modernisiert wird. Im Januar 2010 hatte Zuckerberg das Ende der Privatsphäre verkündet, sie sei „ein Ding von gestern“. Unsere Kultur wurzelt in dem hohen Wert, den wir dem Individuum zumessen. Privatsphäre ist der Humus, auf dem dieser Wert gedeiht. Nun scheint unsere Gesellschaft, verlockt von vernetzten Maschinen, von einer unbändigen Lust an der Geheimnislosigkeit erfasst zu sein – und Facebook tut sein Möglichstes, diese Tendenz zu fördern.

Es ist Geschäftsgrundlage des Unternehmens, immer mehr über die Nutzer und ihre Beziehungen untereinander in Erfahrung zu bringen. Und tausend Millionen Teilnehmer, die ihre Identitäten und Aktivitäten hübsch analysierbar in digitaler Form hinterlassen, sind auch für ungebetene Gäste von Interesse, ob einfache Cyberkriminelle oder die staatlichen Hacker der Geheimdienste. Dokumente aus dem Fundus von Edward Snowden belegen, dass britische Agenten ihre Kollegen von der NSA bereits vor zwei Jahren darüber unterrichteten, wie man die Datenströme von Facebook in Echtzeit überwachen kann.

Man trifft hier Leute mit erfrischend neuen Ideen . . .

Mark Zuckerberg hat eine klare Vision, wohin er mit seiner Firma will. Er war Anfang 20, als er ein Übernahmeangebot über eine Milliarde Dollar ablehnte – gegen den Widerstand seiner Investoren. Was vor zehn Jahren als programmiertes Hobby begonnen hat, ist nun zu etwas geworden, das die Art, wie Menschen auf der ganzen Welt ihre Beziehungen organisieren, verändert. Ähnlich wie vor 7000 Jahren in den Anfängen der geschriebenen Geschichte an den Ufern des Nils und des Euphrat Zivilisationen entstanden sind, lässt sich die Social-Media-Völkerschaft heute am Ufer eines großen Flusses nieder, des Livestreams.

Kulturpessimisten sehen in dem Facebook-Stream aus Medienfragmenten, Links und Textschnipseln eine Quelle zunehmender Orientierungslosigkeit und sinnlicher Verarmung, das Produkt einer verstörten Gesellschaft, der jenes tiefe, gemeinschaftliche Erleben fehlt, das bisher von Spiritualität und Philosophie geleistet wurde. Soziologen an der Michigan State University dagegen haben beobachtet, dass sich soziale Netzwerke überraschend positiv auf die Psyche auswirken können. Nutzer, die mit ihrem Leben unzufrieden waren, zugleich aber intensiv Netzwerke wie Facebook frequentierten, konnten eine soziale Energiereserve aufbauen. Es handelt sich dabei um eine Form menschlicher Beziehungen, die Psychologen als „schwache Bindung” bezeichnen. Schwache Bindungen hat ein Mensch beispielsweise zu Mitschülern oder Partybekanntschaften. Sie sind sehr wichtig, weil sie einem neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen können, die man von engen Freunden oder Familienmitgliedern nicht mehr erhalten würde – weil man sich schon zu gut kennt.

Das Erste, woran man merkt, dass sich durch Facebook etwas verändert hat: Niemand grüßt oder verabschiedet sich mehr an diesem virtuellen Ort. Alle sind immer da, auch wenn sie gerade schweigen. Aus Facebook gibt es, einmal drin, offenbar keinen Ausweg mehr. Wir sind unausweichlich in der digitalen Welt angekommen.

. . . und auch jede Menge notorischer Nervensägen

Es wird einem auf Facebook so einfach wie noch nie gemacht, Kontakte zu knüpfen. Wenn man jemanden nicht mehr möchte, kann man ihn mit zwei Klicks einfach abschalten. Was in der ganzen Zukunftsbegeisterung manchmal übersehen wird, ist, dass nicht nur neue Potenziale des Austauschs und der Verständigung entstehen, sondern auch neue Formen sozialen Versagens – vom Mobbing bis hin zu notorischen Netznervensägen, die es immer wieder schaffen, sinnlosen Streit zu provozieren. Alle hängen wir nun im Netz, ein bisschen wie Fische, gefangen in einer Gegenwart, die Facebook heißt. Facebook ist die Zigarette des 21. Jahrhunderts. Eine schlechte Gewohnheit, die einen nicht mehr so leicht loslässt.

Oder ist Mark Zuckerberg doch ein verkannter neuer Heiland, der die Hungrigen speist mit Gemeinschaftsgefühl und Kommunikation? Immerhin hat er im Lauf der vergangenen zehn Jahre einer Milliarde Menschen dazu verholfen, einander nahe zu sein, „Gefällt mir“ zu klicken und das einzige zu opfern, was uns wirklich gehört: Zeit. Weit über zehn Milliarden Stunden verbringt die weltweite Facebook-Gemeinde pro Monat im Netz. 2011 erklärte der damalige Papst Benedikt soziale Netze zu Orten, die Christen „großartige Möglichkeiten des Verbindens“ geben. Selbstverständlich war auch der Pontifex auf Facebook präsent – man kann ihn aber nicht anstupsen wie gewöhnliche Facebook-Freunde.

Wie die kommenden zehn Jahre aussehen werden? Unergründlich sind die Wege des Herrn. Von dem verpatzten Börsengang hat sich Facebook inzwischen erholt. Dafür ist das Unternehmen nun sehr darauf fixiert, die Werbeeinnahmen zu erhöhen. Der Druck, die Aktionäre zufriedenzustellen, trägt wohl einiges dazu bei, dass von Facebook in nächster Zeit keine umwälzenden Innovationen mehr zu erwarten sind. Nötig wäre es. Einer Untersuchung der US-Marktforscher von iStrategyLabs zufolge kamen Facebook in den vergangenen drei Jahren mehr als 25 Prozent der Nutzer im Alter zwischen 13 und 17 Jahren abhanden, zugleich stieg der Anteil an über 55-Jährigen um 80 Prozent. Facebook, altes Haus, du wirst uns doch nicht den Nachwuchs vergraulen?