In diesem Jahr feiert der US-Flugzeugbauer Boeing sein 100. Firmenjubiläum. Am 15. Juli 1916 hob erstmals ein von Firmengründer William Edward Boing gebauter und gesteuerter Flieger vom Boden ab.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - 15. Juli 1916. Lake Union bei Seattle, der größten Stadt an der Nordwestküste der USA. William Edward Boeing quetscht sich in das enge Cockpit hinter den Steuerknüppel seiner B & W Seaplane. Der 35-jährige Bootsbauer hat das Schwimmflugzeug zusammen mit dem Luftfahrttechniker Conrad Westervelt in einem kleinen Bootshaus am See konstruiert und aus Holz, Leinen und Draht zusammengebastelt. Nun will er es zum ersten Mal in die Luft bringen.

 

Boeings Vater stammt aus Deutschland

Nachdem Westervelt aus dem gemeinsamen Unternehmen ausgeschieden ist, macht Boeing alleine weiter. Konstruktionskenntnisse hat er im Holzverarbeitungsbetrieb seines Vaters, einem deutschstämmigen Bergbauingenieur, erworben. 1868 war der 22-jährige Wilhelm Böing mit seiner Frau Marie Ortmann aus Limburg an der Lenne (heute Hagen-Hohenlimburg) nach Detroit ausgewandert und hatte im Bauholzhandel ein Vermögen gemacht. Am 1. Oktober 1881 wird sein Sohn Wilhelm Eduard geboren.

1890 stirbt der Vater mit 44 Jahren. Mit 13 wird Wilhelm Eduard auf ein Schweizer Internat geschickt. 1900 kehrt er in die USA zurück, ändert seinen Namen in William Edward Boeing und beginnt ein Studium in Yale. 1903 verlässt er die Elite-Universität ohne Abschluss, um im Betrieb seines verstorbenen Vaters zu arbeiten. Als Boeing bei der Alaska-Yukon-Pacific-Messe 1909 in Seattle – inzwischen ist er Chef eines innovativen Bootsbauers – zum ersten Mal ein bemanntes Flugzeug gesehen hat, lässt ihn die Fliegerei fortan nicht mehr los.

In Europa tobt der Luftkrieg

Zurück zum 15. Juli 1916: Während Boeing ein paar friedliche Runden am See dreht, tobt in Europa der große Krieg. An diesem 15. Juli werden beim ersten Luftangriff auf Karlsruhe 50 Menschen getötet. Bereits am 5. Oktober 1914 war eine deutsche Aviatik-Aufklärungsmaschine einer französischen Voisin im ersten Luftkampf der Geschichte zum Opfer gefallen. In der Nacht vom 9. auf den 10. August 1914 griffen französische Flieger Trier als erste deutsche Stadt an und werfen Bomben ab, ohne großen Schaden anzurichten.

William Edward Boeing weiß davon nichts. Er will Flugzeuge bauen und fliegen. Was er nicht ahnt: Der Kurztrip in seiner fliegenden Kiste wird zur Geburtsstunde des größten Luftfahrtkonzerns der Welt. Gerade mal 13 Jahre ist es her, dass den Brüder Orville und Wilbur Wright am 17. Dezember 1903 mit der zwölf PS starken „Kitty Hawk“ der erste erfolgreiche Motorflug der Geschichte gelang. Orville Wright war zwölf Sekunden lang in der Luft und flog 37 Meter weit.

Geburtsstunde der Boeing Airplane Company

William Boeings „Bluebird“ getaufter Erstling ist da von ganz anderem Kaliber. Der Doppeldecker hat einen Reihenmotor, der 125 PS leistet und bis zu 121 Stundenkilometer fliegt. Boeing hofft Aufträge von der Regierung zu bekommen. In Europa tobt seit fast zwei Jahren der Erste Weltkrieg.

Die Entente und die Mittelmächte verfügen jeweils über hunderte moderne Maschinen, während die Aeronautical Divison der U.S. Army gerade mal 23 veraltete Flieger in ihren Hangers stehen hat. Wollen die USA nicht den Anschluss an die technologische Entwicklung verpassen, müssen sie schleunigst aufrüsten.

So lange will Boeing nicht warten. Wenige Wochen nach dem Erstflug der „Bluebird“ gründet er die Pacific Aero Products Company, die er 1917 in Boing Airplane Company umbenennt. Als die USA am 6. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklären, muss alles ganz schnell gehen. Die Navy ordert 50 Flugzeuge zu Trainingszwecken bei Boeing, dessen Mini-Firma rasch expandiert.

Neue Geschäftsfelder

Nachdem Deutschland am 11. November 1918 kapituliert und die Unterhändler in Versailles den Friedensvertrag parafieren, brechen den Flugzeugbauern die Aufträge weg. Auch Boeing sucht nach neuen Geschäftsfeldern und findet sie im Post-, Fracht- und Passagierflugverkehr. Am 3. März 1919 transportiert er zusammen mit dem wieder zurückgekehrten Westervelt die erste Luftpost zwischen den USA und Kanada.

Nun geht es Schlag auf Schlag. 1927 gründet Boeing seine eigene Fluglinie. Er selbst sitzt am Steuer der von ihm konstruierten Boeing Model 40. 1929 fusioniert der Deutsch-Amerikaner mit dem Triebwerkhersteller Pratt & Whitney und anderen Flugzeugherstellern zur United Aircraft and Transport Cooperation.

Zerschlagung des Monopolisten

Als Folge des Luftpost-Skandal (eine Korruptionsaffäre in den USA, ausgelöst durch Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Luftpostverträgen) wird der Monopolist 1934 von der amerikanischen Regierung in drei separate Großfirmen zerschlagen: Boeing Airplane Company (bis heute größter Flugzeughersteller der Welt), United Aircraft Company (heute United Technologies Corporation, einer der bedeutendsten Hightech-Konzerne der USA) und United Air Lines (größte Fluggesellschaft der Welt).

Verbittert zieht sich Firmengründer Boeing vom Flugzeugbau zurück und widmet sich dem Holzgeschäft und der Pferdezucht. Den Aufstieg seines Konzerns zum größten Hersteller von Zivil- und Militärflugzeugen erlebt er nur noch als Berater während des Zweiten Weltkriegs und als Ehrengast bei feierlichen Anlässen. William Edward Boeing stirbt am 28. September 1956 an einem Herzinfarkt an Bord seines Schiffes Taconite .

Boeings Aufstieg zum Weltkonzern

Technologischer Fortschritt durch Krieg

Kriege haben schon immer den technologischen Fortschritt vorangetrieben. Im Flugzeugbau ist das nicht anders. 1907 hat der Science-Fiction-Autor H. G. Wells in seinem Roman „War in the Air“ („Luftkrieg“) mit furchterregender Klarheit die Schrecken kommender Kriege in der Luft vorweggenommen.

Im Januar 1937 ist ein weiterer entscheidender Tag in der Geschichte von Boeing: Der erste große Bomber, die B-17 (B steht für Bomber) hebt ab. Am 20. Oktober 1939, anderthalb Monate nach dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, wird die erste Serienmaschine B-17B an das United States Army Air Corps ausgeliefert.

B-17 „Flying Fortress“

Mit dem „Flying Fortress“ („Fliegende Festung“) getauften 15 Tonnen schweren Ungetüm beginnt der Aufstieg von Boeing zum Giganten im Flugzeugbau. Insgesamt 12 371 B-17 wird der Konzern bis Kriegsende 1945 ausliefern. Täglich verlassen bis zu 16 Bomber die Fließbänder des Boeing-Werks 2 südlich von Seattle.

Weitere Giganto-Bomber folgen: Am 6. und 9. August 1945 werfen B-29 „Superforttress“ die ersten beiden Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasakiabwerfen. Nach dem Krieg werden die B-36 „Peacemaker“, der B-47 „Stratojet“ und vor allem die B-52 „Stratofortress“ zum Inbegriff des strategischen Bombers. Der von 1952 bis 1962 gebaute achtstrahlige strategische Bomber wird im Kalten Krieg der 1950er Jahren zum Grundpfeiler der nuklearen Abschreckung der USA. Bis 2044 soll die B-52 im Dienst bleiben. Damit wäre sie das langlebigste Kampfflugzeug aller Zeiten.

Bau von Zivilflugzeugen

Nach Ende des Krieges 1945 expandiert Boeing weiter. Der Konzern steigt zum größten Produzenten von Zivil- und Militärflugzeugen auf, fasst Fuß in der Raketenentwicklung. In den 1950er Jahren ist Boeing am Bau der „Minuteman“-Interkontinentalrakete beteiligt, die bis heute (als modernisierter Typ Minuteman III) den Kern der amerikanischen Atomstreitmacht bildet. Darauf aufbauend konstruiert Boeing Teile der Mondrakete Saturn V.

1958 wird die Boeing 707 in Dienst gestellt, ein vierstrahliges Langstrecken-Passagierflugzeug, das die Zivilluftfahrt revolutioniert. Weitere Baureihen folgen: 1964 die Boeing 727, 1968 die 737 und 1970 die 747 „Jumbo-Jet“. Dieses Großraum-Flugzeug ist der größte Passagierflieger der Welt (rund 470 Plätze) und wird es bleiben bis zum Erstflug des Airbus A 380 am 27. April 2005.

Der Konzern verdient sich mit bisher 1521 ausgelieferten Varianten des Riesen eine goldene Nase. Eine Boeing 747 in der Flotte zu haben, ist über Jahrzehnte für alle großen Fluggesellschaften eine Prestigefrage. Auch bei der „Air Force One“, dem Dienstflugzeug des US-Präsidenten, handelt es sich um eine modifizierte Langstreckenversion der Boeing 747-200B.

Airbus macht Konkurrenz

In demselben Jahr, in dem Boeing mit dem „Jumbo-Jet“ in neue Sphären vordringt, wird das deutsch-französische Gemeinschaftsprojekt Airbus gegründet. Im A 300, 320, 330 und 340 erwachsen dem US-Hersteller gefährliche Konkurrenten beim Kurz-, Mittel- und Langstrecken-Flugverkehr. Heute teilen beide Firmen den weltweiten Markt für Zivilflugzeuge unter sich auf.

100 Jahre nach der Gründung ist der amerikanische Flugzeugbauer mit einem Umsatz von 96 Milliarden Dollar (86 Milliarden Euro) und rund 165 000 weiterhin die Nummer eins. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. „Wir müssen kräftig sparen, weil wir mit Airbus auf der Kostenseite nicht wettbewerbsfähig sind“, erklärte jüngst Ray Conner, Chef der zivilen Flugzeugsparte des Konzerns.

Die Boeing 747-800, die vor fünf Jahren auf den Markt kam und dem A 380 Konkurrenz machen soll, ist ein Flop. Nur die Lufthansa und Korean Air haben sich bisher für den neuen „Jumbo Jet“ entschieden.

„Sonic Cruiser“ und „Dreamliner“

Nachdem die Entwicklung der „Sonic Cruiser“ – eines schallschnellen Großflugzeuges mit radikal neuem Design mit Deltaflügeln, Entenflügeln als Höhenruder und zwei Seitenleitwerken – 2002 abgebrochen wurde, setzt Boeing nun alle Hoffnung auf die Boeing 787 „Dreamliner“, ein zweistrahliges Langstreckenverkehrsflugzeug.

2011 wurde der erste „Dreamliner“ ausgeliefert, drei Jahre später als es der ursprüngliche Zeitplan vorsah. Trotz technischer Probleme und zeitweiliger Flugverbote hat sich der Jet mit mehr als 420 produzierten Exemplaren zum wirtschaftlichen Rückgrat des Konzerns entwickelt.

Die Luftfahrt von morgen

Nurflügler-Technologie

Wie werden die Flugzeuge der Zukunft aussehen? Schlank wie Raketen, Nurflügler, angetrieben von Solarenergie, superleise, mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit? Boeing Phantom Works, eine supergeheime Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Flugzeugbauers mit Sitz in St. Louis (US-Bundesstaat Missouri) arbeitet an alternativen Flugzeugkonzepten wie dem „Blended Wing Body“ (englisch für übergangslose Flügel-Rumpf-Verbindung).

Bekanntester Vertreter dieser Technologie ist der US-Tarnkappen-Bomber Northrop „B-2 Spirit“ – mit mehr als 700 Millionen Dollar (627 Millionen Euro, ohne Bewaffnung) das teuerste Flugzeug aller Zeiten.

Die Zukunft der Fliegerei ist grün

Im Rahmen des „Yellowstone Project“ will Boeing seine bisherigen Modellreihen 737, 767 und 777 durch die technologisch innovativeren Modelle Y1, Y2 und Y3-Ecoliner ersetzen. Seit Jahren bastelt der Konzern zudem an solargetriebenen Jets und Flugzeugen mit Hyperschallgeschwindigkeit (wie das X-51A „Waverider“-Projekt).

Ende Mai hat Boeing ein Patent für ein Solarflugzeug angemeldet, das – zumindest theoretisch – für immer im Himmel kreisen könnte. In der Computersimulation har es die Form eines „U“ und ist mit Solarzellen zugepflastert, die den Flieger dauerhaft mit der nötigen Energie versorgen sollen. Die Zukunft der Fliegerei und die Boeings soll grün sein.