Seit 100 Jahren gibt es das Deutsche Institut für Normung. DIN-Normen haben die industrielle Massenfertigung erst möglich gemacht. Der deutsche Exporterfolg wird durch die zunehmende Verbreitung internationaler Standards gestützt.
Frankfurt a.M./Berlin - Das Kürzel DIN kennt jedes Grundschulkind, denn für Übungen und Hausaufgaben werden Hefte in den Größen DIN A4 oder DIN A5 benötigt. Diese Papierformate sind wohl die bekannteste Errungenschaft des Deutschen Instituts für Normung (DIN) in Berlin, das an diesem Freitag sein hundertjähriges Bestehen begeht.
Die Norm 476 für Papierformate wurde 1922 veröffentlicht. Sie erleichtert seitdem das Abheften und Ordnen von Dokumenten. Die allererste DIN-Norm aus dem Jahr 1918 betraf indes ein Produkt, das den meisten Verbrauchern weniger geläufig sein dürfte: den Kegelstift. Es handelt sich um ein Verbindungselement aus dem Maschinenbau. Wegen der Normung können für jedes Gerät problemlos passende Ersatzteile beschafft werden.
In England gab es schon früh Normensetzer
„Mit der Industrialisierung entstand eine arbeitsteilige Produktion. Damit Teile aus verschiedenen Fabriken auch zusammenpassten, waren Normen erforderlich“, erläutert eine DIN-Sprecherin. Noch vor dem DIN gab es nationale Normensetzer in Ländern, in denen die Industrialisierung bereits weiter fortgeschritten war: Schon 1901 wurde in London die British Standards Institution gegründet.
Auch in Deutschland gab es zu dieser Zeit bereits Normen – aber nur für einzelne Werke oder Branchen. Entscheidender Auslöser für eine branchenübergreifende Standardisierung war der Erste Weltkrieg. Um Waffen und andere Ausrüstung für die Truppen zu beschaffen, mussten Aufträge häufig an mehrere Unternehmen gleichzeitig vergeben werden. „Die Produkte sollten aber identisch sein“, schreibt der Historiker Günther Luxbacher in seinem neuen Buch „DIN von 1917 bis 2017“. Um die Massenfertigung von Kriegsgerät voranzutreiben, wurde in Berlin-Spandau das „Königliche Fabrikationsbüro“ eingerichtet. Es sei die Keimzelle der branchenübergreifenden technischen Normung in Deutschland, so Luxbacher.Mit der Gründung des heutigen DIN überließ der Staat die Normierung weitgehend der Privatwirtschaft. Das zeigt schon der Taufname der Organisation, die damals „Normenausschuss der Deutschen Industrie“ (Nadi) hieß. Bis heute ist das DIN privatwirtschaftlich organisiert. Neben Vertretern aus Unternehmen und Verbänden gehören den 118 vom DIN koordinierten Normenausschüssen allerdings zahlreiche Behördenvertreter an. Obendrein erhält das Institut für seine Arbeit staatliche Zuschüsse. Gleichwohl gilt: DIN-Normen sind keine Gesetze, verbindlich werden sie erst, wenn ein Gesetz oder eine Verordnung auf eine Norm verweist.
Apple schert aus
Dass nicht alle Normen zwingend befolgt werden müssen, zeigt das Beispiel Handy-Ladegeräte: Zwar sind Kabel und Stecker der meisten Hersteller inzwischen austauschbar. Der Smartphone-Pionier Apple macht aber sein eigenes Ding. Wer sein iPhone mit dem Ladekabel eines anderen Herstellers verbinden will, braucht einen Adapter, weil Apple nicht den genormten Micro-USB-Anschluss in seine Geräte einbaut.
Die fragliche Norm EN 62684 ist übrigens eine europäische. Weltweit gültige Normen tragen das Kürzel ISO der International Organisation for Standardization. DIN vertritt dort die Interessen der deutschen Wirtschaft, ebenso wie beim Europäischen Komitee für Normung (CEN). Die meisten Normen entstehen mittlerweile in europäischer oder internationaler Zusammenarbeit.
Ein echter Fortschritt, denn früher versuchten einzelne Länder, ihre heimischen Standards der ganzen Welt aufzudrücken. So hätten die US-Autobauer Ford und General Motors in den 30er Jahren versucht, in den deutschen Ford- und Opel-Werken das amerikanische Maßsystem mit Zoll und Fuß einzuführen, schreibt der Historiker Luxbacher. Die Nationalsozialisten wiederum zwangen im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern wie Polen und Frankreich die deutschen Normen auf. Noch in den 80er Jahren warf die damalige französische Wirtschaftsministerin Edith Cresson der Bundesrepublik „Protektionismus mithilfe von Normen“ vor. Erst kurz darauf verpflichteten sich die EU-Staaten gegenseitig, europäische Normen in die nationalen Regelwerke zu übernehmen. Damit schufen sie letztlich die Grundlage für den europäischen Binnenmarkt.
Experte: Normenausschüsse sind kein nettes Kränzchen
Natürlich bleibt nationale Industriepolitik trotz aller Zusammenarbeit auch heute ein wichtiges Motiv bei der Normensetzung. „Normenausschüsse sind kein nettes Kränzchen, wo man sich rein technisch unterhält – da spielen schon handfeste Interessen eine Rolle. Dass sich da mal der eine und mal der andere durchsetzt, ist klar“, sagt Gerhard Steiger vom DIN-Normenausschuss Maschinenbau. Die deutschen Maschinenbauer profitierten von ihrer starken Position im internationalen Wettbewerb, „da haben wir im Normungsprozess schon Spuren hinterlassen“.
In den laufenden Debatten über Normen für die Industrie 4.0 sei wiederum deutlich spürbar, „wie die US-Seite versucht, ihre Vorstellungen durchzusetzen“, sagt Steiger. Die amerikanische IT-Branche verfolge andere Ansätze als die Anwender im Maschinenbau oder in der Elektrotechnik, die eher auf Geschäftsmodellen in Verbrauchermassenmärkten beruhten: „Die IT-Branche setzt halt auch gern mal was in die Welt, was nicht zu 100 Prozent ausgereift ist. Das ist eine ganz andere Denkweise als bei uns.“
Doch unter dem Strich sei die weltweite Vereinheitlichung technischer Standards für exportorientierte Unternehmen ein großer Vorteil, betont Steiger. „Das hat auch dazu beigetragen, dass deutsche Maschinenbauer im Ausland so erfolgreich sind.“ Weitere Vorteile: Mit gemeinsamen technischen Standards wird auch Wissen übermittelt, auf das Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte aufbauen können. Laut einer DIN-Studie von 2009 beläuft sich der volkswirtschaftliche Nutzen der in Deutschland gültigen Normen auf 17 Milliarden Euro pro Jahr. Dass so mancher Unternehmer die ein oder andere Norm trotzdem als Zumutung empfindet, ist klar. Das DIN wünscht sich, dass mehr Betriebe eigene Experten in die Normenausschüsse entsenden: „Da könnten sie mitgestalten.“