Ganze Generationen leben in Friedrichshafen seit 100 Jahren von und mit ZF. Durch den Kauf von TRW (USA) ist der Zulieferer jetzt weltweit die Nummer drei.

Friedrichshafen - Das schlimmste Jahr? 1944. Keine Frage. Da ist sich Alfred Ortlieb sicher. Am 17. Dezember starteten britische Bomber einen Großangriff auf das Stadtzentrum von Ulm. Ziel waren die Fabriken von Magirus-Deutz und Kässbohrer sowie Wehrmachtskasernen und Depots. 25 Minuten dauerte das Inferno der Geschwader der Royal Air Force. Ein Feuersturm erhob sich, dem fast die gesamte Altstadt zum Opfer fiel. 707 Menschen kamen um, 613 wurden verletzt.

 

Alfred Ortlieb blieb am Leben. Aber seine Arbeit war weg, von Eckhardt & Söhne war nichts mehr übrig. Der 21-Jährige aus Großschaffhausen, einem Dorf bei Laupheim, hatte dort gerade erst eine Lehre als Sattler begonnen. Er war froh über die Anstellung gewesen. „Auf dem Land gab es nicht viel.“ Bei einem Handwerker in Laupheim konnte er dann altes Pferdegeschirr flicken. Nach dem Krieg war er kaum mehr als ein ungelernter Hilfsarbeiter. Was sollte aus ihm werden?

„Es war purer Zufall und mein Glück“

In Friedrichshafen gab es große Firmen der Luftfahrtindustrie, die Arbeit versprachen. Sie verdienten an der Rüstung, und auch sie waren von verheerenden Bombenhageln betroffen. Der schlimmste Angriff geschah ebenfalls 1944. In der Nacht des 28. April wurden die Fertigungshallen so stark beschädigt, dass die Produktion verlagert werden musste.  Nach dem Krieg aber ging die Produktion bei Dornier, Maybach und vor allem bei der Zahnradfabrik wieder weiter.

Jede Woche trat ein Vorarbeiter vor das Werkstor und stellte von der Straße weg Leute ein. Ortlieb hatte davon gehört. Aber würden sie ihn nehmen – ohne dass er etwas Rechtes konnte? „Wer ist zwanzig?“ Alfred Ortlieb hört die Stimme des Vorabeiters heute noch im Ohr. Sie fragten nur nach dem Alter! Nicht danach, was man gelernt hatte. „Ich“, schrie er und mit ihm noch ein paar andere. „Mitkommen!“

„Es war purer Zufall und mein Glück“, sagt der heute 85-Jährige . „Jeder war froh, der da reingekommen ist.“ Er begann als Verzahnungsschleifer, ebnete die Unebenheiten der Zahnräder ein. Bald lernte er eine Frau kennen, gründete eine Familie. Nach 15 Jahren stieg er zum Maschineneinsteller auf. Nach weiteren fünf Jahren war er Vorarbeiter. 38 Jahre lang blieb er bei der Zahnradfabrik. Alfred Ortlieb begründete eine Dynastie. Beide Söhne schickte er zur Lehre hin. Der jüngere, Eberhard, ist noch immer dort. Seit nunmehr 41 Jahren. Auch der Enkel Ingo könnte sich keinen besseren Arbeitgeber vorstellen als die Zahnradfabrik, die seit den neunziger Jahren als ZF ein weltweiter Begriff geworden ist.

Die Propellermaschinen waren entsetzlich laut

Die Luftschiffe des Grafen Ferdinand von Zeppelin (1838–1917) waren die Keimzelle von allem. Sie haben Friedrichshafen, einer Kleinstadt von 57 000 Einwohnern, eine Großstadtindustrie beschert. Ohne den Grafen wäre der Ort wohl die verschlafene Sommerresidenz des württembergischen Königs geblieben, die er bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war. Am 2. Juli 1900 war der erste Zeppelin LZ 1 im Ortsteil Manzell aufgestiegen. Als aber das Luftschiff LZ 4 im Sommer 1908 in Echterdingen in Flammen aufging, war dies nicht das von vielen prophezeite Ende, sondern der triumphale Neuanfang der Luftschifffahrt. Deutsche und Schweizer spendeten sechs Millionen Reichsmark, Die bildeten die Grundlage des Neuanfangs.

Wer Luftschiffe baut, benötigt auch Motoren. Die ersten Propellermaschinen der Zeppeline aber waren so entsetzlich laut, dass dem Leiter der Versuchsabteilung, Graf Alfred von Soden (1875– 1944), aufgetragen wurde, schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen. Er fand die Lösung bei dem Schweizer Ingenieur Max Maag (1883– 1960), dessen Maschinen Zahnräder schliffen, die sich geräuscharmer drehten. Am 20. August 1915 unterzeichneten Maag und der Geschäftsführer der Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Alfred Colsman (1873–1955), die notarielle Vereinbarung zur Gründung der „Zahnradfabrik, Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Schon bald baute sie Zahnräder, Getriebe und mithin Antriebstechniken für Luftschiffe, Flugzeuge und – ab 1919 – auch für Automobile.

Wenige Kommunen sind so reich wie Friedrichshafen

Alfred Ortlieb war am 9. Oktober 1950 zur Zahnradfabrik gekommen. Er hatte sich ein weiteres bedeutsames Jahr in der Unternehmensgeschichte ausgesucht. Das Unternehmen, seit 1921 eine Aktiengesellschaft, hatte am 17. August 1950 seine Aktien zu 89,8 Prozent an die Stadt Friedrichshafen und den Rest an die Familie Brandenstein-Zeppelin übertragen. Damit umging die Firma die drohende Enteignung durch die französische Besatzungsmacht. Der Großkonzern Luftschiffbau Zeppelin GmbH war zuvor schon in die Einzelunternehmen Maybach, Luftschiffbau Zeppelin und ZF aufgeteilt worden. Ein Schritt, vor dem Kritiker gewarnt hatten, der sich aber schon bald als zukunftsträchtig erweisen sollte. Heute ist Friedrichshafen im Besitz sowohl des milliardenschweren ZF-Konzerns wie der Zeppelin-Baumaschinen und vermutlich eine der reichsten Kommunen der Welt, worüber man am Bodensee wohlweislich lieber schweigt. Jahr für Jahr profitieren die sozialen und kulturellen Einrichtungen der Stadt von Zuwendungen im zweistelligen Millionenbereich aus der Stiftung.

Schon während der NS-Diktatur hatte das Unternehmen stark expandiert. Die Zahnradfabrik baute, auch mit Hilfe von mehr als 2800 Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, die Getriebe für die deutschen Panzer. 1926 wurde eine Fabrik in Berlin gebaut. 1937 erfolgte die Gründung des Werks Schwäbisch Gmünd und 1943 kam in Passau/Bayern ein weiterer Standort hinzu. 1958 folgte die erste ausländische Niederlassung in Brasilien.

Die Ortliebs bleiben lieber „im Hafen“

Alfred Ortlieb hätte vielleicht nach Südamerika gehen können oder möglicherweise auch in die USA. In Illinois/Chicago wurde 1979 der erste US-Standort eingerichtet. Ortlieb interessierte das alles nicht. Er blieb lieber „im Hafen“, wie sie in Friedrichshafen sagen, wenn es einem daheim gefällt, denn heimatverbunden, das sind sie, die Ortliebs. Weder der Vater, noch der Sohn oder der Enkel sind je den Verlockungen der Ferne erlegen. Dabei hätten sich auch ihnen gute Möglichkeiten eröffnet. Die Zahnradfabrik war während des deutschen Wirtschaftswunders rasant gewachsen. Schon 1960 hatte sich die Belegschaft im Vergleich zu 1950 auf gut 12 000 Menschen weltweit verdreifacht, allein 5100 arbeiteten in Friedrichshafen.

Doch auch so schaffte sich Eberhard Ortlieb hoch, erst zum Industriemeister und schließlich 1985 zum Personalreferenten. Es ist ihm gut ergangen, er hat ein Haus gebaut. 20 Jahre lang war er Präsident und Zunftmeister der Narrenzunft „Seegockel“. Seit elf Jahren sitzt er als Fraktionschef für die Freien Wähler im Stadtrat und seit einem Jahr auch im Kreistag. Als einer von vier Stadträten gehört er dem einflussreichen Stiftungsrat der Zeppelin-Stiftung an.

Der Konzern bietet jetzt viel mehr Möglichkeiten

Dort hatte er hautnah miterlebt, wie es in den Jahren nach 2001 dem Konzern gelungen war, weitgehend geräuschlos die Integration von Mannesmann Sachs in Schweinfurt zu stemmen – „zumindest nach außen hin“. Heute sieht sich das Unternehmen einer ungleich größeren Herausforderung gegenüber, denn zu seinem hundertsten Geburtstag hat sich ZF die Übernahme des etwa gleich großen US-Konzerns TRW gegönnt. Damit ist das Unternehmen in kommunalem Besitz zum weltweit drittgrößten Automobilzulieferer aufgestiegen mit 134 000 Mitarbeitern an 230 Standorten in 40 Ländern und einem Umsatz von über 30 Milliarden Euro.

Die beiden Elefanten der Zulieferindustrie machen einander, so heißt es, keine Konkurrenz; sie ergänzten sich vielmehr. Während ZF traditionell auf Getriebe und Antriebs- und Fahrwerkskomponenten sowie komplette Achssysteme für Personenwagen und Nutzfahrzeuge, Züge, Schiffe und neuerdings auch auf Windräder setzt, steht bei TRW die Sicherheit im Vordergrund. Das 1901 gegründete Unternehmen aus Livonia im US-Bundesstaat Michigan baute die ersten Motorenventile und hölzernen Lenkräder für Henry Ford. TRW stellte da erste elektronische Anti-Blockier-System (ABS) und Airbags her und ist auf allerlei Komponenten der Fahrwerktechnik und elektronische Systeme spezialisiert.

Ingo, der Enkel, ist beeindruckt von den neuen Möglichkeiten, die der ZF-Konzern nun bietet. Noch mehr aber hat es ihn bewegt, dass das Unternehmen in seinem Fall zu ihm gehalten hat. „Ich bin dankbar, dass mich ZF nach meiner Lehre trotz der Finanzkrise 2009 übernommen hat“, sagt er. Der Handballer und Co-Trainer der HSG Friedrichshafen-Fischbach konnte bei der Firma seiner Wahl bleiben. Dabei machte auch ZF die weltweite Absatzkrise für Pkws und Lkws zu schaffen. Ein Sparpaket von 600 Millionen Euro und ein Kredit von 250 Millionen Euro der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) waren notwendig, um die Krise zu überwinden. Das ist längst geschafft und Ingo Ortlieb hat unterdessen in dem Versuchslabor für das Lastwagengetriebe AS-Tronic eine Anstellung gefunden. Wenn es geht, möchte er noch sehr lange bei der ZF bleiben – am liebsten ein Leben lang.