Sie hatten Todesangst oder sorgten sich um ihre Liebsten - eine New Yorker Familie erinnert sich an den Tag des Terrors.
New York - Valerie B. (55) arbeitete in einer Bank im World Trade Center. Über das Erlebte hat sie zehn Jahre nicht geredet. Ein Foto von sich lehnte sie ab.
"Meine Arbeit im World Trade Center begann immer um 8.30 Uhr. Aber am Vorabend des 11. September war ich länger im Büro. Ich hatte meinen Mitarbeitern gesagt, dass sie später kommen könnten. Das hat uns gerettet. Als ich um 8.48 Uhr aus der U-Bahn stieg, war das erste Flugzeug erst vor zwei Minuten eingeschlagen. Alle standen nur da und schauten hinauf. Der Nordturm brannte.
Ich wollte sofort hin, um den Kollegen zu sagen, dass sie raussollten. Jemand hastete vorbei und rief: ,Oh, Gott, ein Flugzeug.' Da ist ein Pilot aber desorientiert gewesen, dachte ich. All diese Gegenstände fielen herunter. Ich habe nicht verstanden, was ich sah. Dann erinnere ich mich an diese Silhouette, die aussah, als habe jemand seine Arme und Beine ausgebreitet. Weißes Hemd, schwarzer Anzug. Es war ein Mensch. Er kam kopfüber herunter. Ich sah Körperteile herumliegen.
Mir wurde schwarz vor Augen. Jemand hat meinen Arm gepackt und gesagt: ,Fall ja nicht um, du wirst zu Tode getrampelt.' Dann schlug das zweite Flugzeug ein. Alle rannten plötzlich. Ich wollte nicht in die U-Bahn, weil ich fürchtete, dort begraben zu werden. Im Chaos sah ich einen großen Mann, der ein Kind hochhielt und schrie: ,Wer hat dieses Baby zurückgelassen?' Die Straßen wurden voller. Ein leerer Bus entfernte sich eilig. Ich stellte mich auf die Straße und stoppte ihn. Der Fahrer schrie mich an. ,Geh aus dem Weg!' Ich schrie zurück: ,Wir alle wollen raus!' Dann sind die Leute zum Bus geströmt. Sie zückten ihre Fahrkarten, ein paar haben nach Wechselgeld gefragt. Wir waren auf Alltag programmiert. Ich glaubte an weitere Angriffe, wollte möglichst weit weg.
Ich erreichte den letzten Vorortzug, der noch fuhr. Zu Hause lag ich drei Tage auf dem Sofa und weinte. Ich musste an die denken, die gesprungen waren. Sie müssen so gelitten haben. Nach einer Weile wollte ich nicht mehr darüber reden. Die Leute sind doch nur froh, dass ihnen selbst nichts passiert ist. Ich war für sie äußerlich unverletzt. Was war also mein Problem? Am 11. September habe ich gemerkt, wie wenig mich der Staat schützen kann.
Auch danach haben wir versagt. Wir haben den Witwen der Helfer Millionen gegeben. Helden - das war alles, was zählte. Die Überlebenden ließen sie im Stich. Was war mit meinen Kollegen, die ihren Job aufgaben, weil sie Angst vor Manhattan hatten? Sie haben sich nicht einmal um die Gesundheit der Arbeiter in den Trümmern gekümmert. Die zehn Jahre haben nichts geheilt. Das World Trade Center ist ein Friedhof, doch die Leute gaffen, als seien sie im Kunstmuseum. Ich habe mich entschieden, in New York zu bleiben. Aber seit damals habe ich immer Schuhe mit flachen Sohlen dabei, damit ich bei Gefahr schneller wegrennen kann."
Barbara Kavanagh (48) ist Valeries Schwägerin. Sie ist Rektorin einer katholischen Schule in der Bronx.
"Ich werde nie vergessen, wie bei meiner Fahrt zur Arbeit die Zwillingstürme in der Sonne schimmerten. Ich war Viertel vor acht an der Schule. Um neun kam meine Sekretärin und sagte, dass ein Flugzeug abgestürzt sei. Ich brach den Unterricht ab und versammelte die Kinder im Hauptgebäude. Ich sagte den Schülern, dass ein großer Unfall passiert sei: ,Macht euch keine Sorgen, wenn Mama und Papa nicht gleich kommen und euch abholen.' Mit dieser Ansage bin ich durch die Klassenzimmer gegangen. Ich wollte sie vor dem Horror schützen. Als ich in einer Tür stand, hörte ich Jets über uns hinwegdonnern. Ich duckte mich und dachte, die werfen eine Bombe.
Ich rief meine Eltern an, sie weinten. Ich dachte, dass ich sie und die Kinder nie wiedersehen würde. Ich wollte wenigstens meinen 16-jährigen Sohn Michael bei mir haben und holte ihn aus der Schule in der Nähe ab. Meine Eltern in Queens nahmen die beiden Kleinsten zu sich. Wenn etwas passieren würde, sollten sie bei ihnen sein.
Schlimm war, dass der Vater zweier Schüler nicht wiederkam. Er war Polizist im World Trade Center. Er war schon draußen, dann ging er zurück, um andere zu retten. Als zwei Tage später klar war, dass er nicht überlebt hatte, musste ich seinen Jungen aus dem Klassenzimmer holen. Ein ruhiger, schüchterner Siebenjähriger. Er wollte erst nicht mit. Wir gingen zur Bücherei, wo seine Mutter auf ihn wartete, um es ihm zu sagen. Er zeigte keine Gefühle, als er wieder zurück in die Schule kam. Seine vierjährige Schwester klammerte sich danach sehr an mich. In den Tagen darauf musste ich mich auch um die muslimischen Familien kümmern. Ich wollte nicht, dass anständige Leute angefeindet würden.
Wenn ich heute Gewalt in der Welt sehe, glaube ich, dass das jederzeit auch hier passieren kann. Seit bin Laden tot ist, fühle ich mich noch weniger sicher. Er hätte bestraft gehört. Aber in sein Haus zu gehen und ihn zu erschießen, ist für uns eine Schande. Zur neuen Gedenkstätte werde ich nie gehen. Die Toten sind in meinem Herzen - ich habe an der Schule eine Flagge mit ihren Namen. Auch wenn ich Amerika liebe, frage ich mich manchmal, ob ich nicht wegsollte. Die Terroristen haben etwas im Gewebe dieses Landes zerrissen. Ich werde mich nie mehr sicher fühlen."
"Ich dachte, das sei der Nahe Osten - aber es war Manhattan"
Blaise Kavanagh (27), Modedesigner, ist Barbaras ältester Sohn. Er ging 2001 in Manhattan zur Schule.
"Es war einer der ersten Schultage, ein sonniger Morgen. In der ersten Stunde hieß es plötzlich, alle Schüler, deren Eltern im World Trade Center arbeiteten, sollten sich im Rektorat melden. Wir dachten uns nichts dabei. Dann kam das Gerücht auf, dass dort ein Flugzeug abgestürzt sei. Aber erst in der Pause durften wir raus. Wir hatten einen Fernseher, der stand in der Schulbücherei. Wir sahen den Staub, die Asche.
Ich dachte, das sei der Nahe Osten - aber es war Manhattan. Ich schaute zu, wie der erste Turm kollabierte. Dann schlossen sie uns in der Turnhalle ein. 250 Leute saßen auf Stühlen herum - ohne Fernseher. Wer telefonieren wollte, brauchte eine Genehmigung. Meine Mutter flippte fast aus, weil sie an der Schule nicht durchkam. Es wurde über das Pentagon berichtet, über Pennsylvania. Wir glaubten, das ganze Land wäre im Krieg, die Angreifer würden eine Atombombe werfen und wir alle sterben. Völlig surreal. Wir haben das anders erlebt als heute, wo alle in ihre Handys starren würden. Ein Lehrer hat uns zu Fuß nach Hause gebracht. Es dauerte ewig.
Mit Freunden bin ich dann in ein Hochhaus gegangen und habe die Rauchsäule beobachtet. Man sah, dass die Türme verschwunden waren. Nur der Rauch hing überm Horizont. Ich dachte, so sieht ein Massaker aus. Da habe ich erst begriffen, was passiert war.
Ich hatte damals nicht die leiseste Vorstellung, wie dieses Ereignis die Welt verändern würde. Ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen, aber mein Lebensgefühl ist nicht mehr dasselbe. Vor Kurzem habe ich in der U-Bahn zwei arabisch aussehende Männer gesehen. Sie hatten große Taschen, einer schwitzte. Ich habe sie der Polizei gemeldet. Aber ich wäre doch selber ein Terrorist, wenn ich in New York nicht mehr mit Muslimen zusammenleben könnte.
Unser Feind hat kein Gesicht. Es ist kein Land, es ist keine Person - es ist eine Art zu denken, die man nicht ändern kann. Wir können keinen zwingen, Amerika zu mögen. Zehn Jahre sind in meinem Leben eine lange Zeit. Amerika ist nicht mehr, was es war. Als Kind in der Schule habe ich gelernt, dass wir die Besten sind, die Sieger in jedem Krieg, die Beschützer der Welt. Das ist vorbei."
Robert Schmidt ist der Großvater von Blaise. Der 72-Jährige war vor zehn Jahren schon im Ruhestand.
"Ich war gerade in einem Wahllokal und schaute dort fern. Da hieß es, ein Flugzeug habe das World Trade Center getroffen. Ich dachte mir nicht viel dabei. 1945 hat sich einmal ein Militärflugzeug im Nebel verirrt und ist in das 85. Stockwerk des Empire State Buildings geprallt. Zu Hause sah ich, was los war. Ich hatte Angst um unsere Schwiegertochter Valerie und die Exfrau einer meiner Söhne, die beide im World Trade Center arbeiteten. Ich rief gerade meinen ältesten Sohn an, um mich zu erkundigen, als der zweite Flieger einschlug. Zum Teufel, fragte ich mich, wer steuert diese Flugzeuge? Auf einmal sah man die Gebäude nicht mehr. Jetzt hat meine Enkelin keine Mutter mehr, dachte ich. Erst später erfuhr ich, dass sie heil rausgekommen war. Zum Glück war auch meine Schwiegertochter Valerie noch nicht im Gebäude. Wäre sie zu ihrer normalen Arbeitszeit gekommen, wäre sie tot.
Dann wurde über das Pentagon berichtet, später über den Absturz in Pennsylvania. Es war die totale Panik. Wir holten die jüngsten Kinder meiner Tochter Barbara von der Schule ab. Sie waren erst fünf und acht. Sie haben nicht mal Fragen gestellt.
Was sich für mich geändert hat? Ich musste aufs Dach und die Antenne drehen, weil das Signal nicht mehr vom World Trade Center kam. Ich nehme aber die U-Bahn wie immer. Was wir tun, tun wir auch weiterhin - so sind wir Amerikaner. Lange habe ich jedes Mal, wenn ich über die Brücke nach Manhattan fuhr, die Türme gesucht. Erst nach Jahren habe ich eingesehen, dass sie weg sind. Jeder hat gesagt, dass sie hässlich waren, aber ich vermisse sie. Mir ist egal, was sie da nun hochziehen: Ich will die Twin Towers zurück. Ich brauche keinen spitzen "Freedom Tower". Ich will zwei quadratische Türme. Noch ein Stockwerk höher, zum Trotz.
Zur Gedenkstätte werde ich nicht gehen. Wofür? Ich finde, wir haben noch nicht genügend Terroristen erschossen. Sie sollten New Yorker Polizisten und Feuerwehrleute ins Hinrichtungskommando berufen. Nun gut, bin Laden haben sie. Aber wir müssten aggressiver unsere Interessen verteidigen. Im Übrigen sollten wir uns nicht an Orten einmischen, wo wir nicht hingehören. Solange einer glaubt, wir seien der Feind, wird die Bedrohung weiter bestehen."