Leise und schlicht war sie, die Gedenkfeier für die Opfer des Terroranschlags am 11. September. Damit wurde falsches Pathos übertönt.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

New York - Das Erste, was an diesem Morgen zu hören ist, sind die Wasserfälle, die in die Tiefe der neuen Gedenkstätte am World Trade Center stürzen. Sie legen einen Schleier über alles, was hier die Andacht stören könnte. In der Menschenmenge halten Angehörige der Opfer Plakate hoch. "Ich liebe dich", steht da immer wieder, dann folgt ein Namen.

 

Es sind die individuellen Schicksale, die diese Feier bestimmen. Kein nationales Pathos, kein konstruierter Sinn. Zwei Frauen beginnen zu leiser Cellomusik eine lange Liste zu verlesen. Zwei davon sind ein Sohn und eine Tochter der beiden. Gordon M. Aamote, Edelmiro Abad, Maria Rose Abad, Andrew Anthony Abate... Vier Stunden wird es dauern, bis Joseph Zuccala, Andrew S. Zucker und Igor Zukelman die nicht enden wollende Liste beschließen.

Politischen Reden nicht erlaubt

Wie immer hat sich die Stadt äußerste Zurückhaltung verordnet. Keine Politikerreden, keine Geistlichen. Barack Obama und sein Amtsvorgänger George W. Bush dürfen wie alle anderen nur Texte anderer Autoren verlesen. Eine Abteilung der New Yorker Polizei entfaltet eine aus den Trümmern gerettete Fahne. Ein Kinderchor singt die Nationalhymne - nicht so schmetternd und laut, wie man sie in den USA oft hört. Die klagenden Töne der Dudelsäcke und der Rhythmus der Trommeln, den die New Yorker nun seit zehn Jahren zu diesem Ereignis gewohnt sind, scheinen wie geschaffen, um jedes falsche Pathos zu übertünchen.

"Zehn Jahre sind vergangen, seit der sonnigste Tag in die dunkelste Nacht verwandelt wurde", sagt der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg. "Gott ist uns Zuflucht und Stärke, ein bewährter Helfer in allen Nöten", sagt Präsident Barack Obama und rezitiert nach dem Bürgermeister aus Psalm 46. "Gott ist mit uns". Sein Auftritt dauert nur wenige Sekunden. Ein paar Menschen klatschen schüchtern Beifall. Als George W. Bush einen Trostbrief von Abraham Lincoln für einen Kriegstoten verliest, ist der Applaus deutlich lauter. "Ich übermittle ihnen den Dank der Republik, für die er gestorben ist", sagt Bush. Doch es sind die Tränen, die persönlichen Reminiszenzen der Trauernden, wenn sie an einen Menschen erinnern, der ihnen persönlich etwas bedeutet hat, welche die düstere Monotonie unterbrechen.

Werbeparolen sind Teil der Feier

Am Sonntagmorgen, als die Feier offiziell schon begonnen hat, laufen auf dem Times Square die Leuchtreklamen wie immer. Der Zeitungsverteiler des Gratisblattes "Metro New York" preist lautstark seine Ware an. Es ist nur ein Flugblatt, auf dem nichts anderes steht als die Namen der Opfer. Fast mehr Polizisten als Menschen umlagern den Platz. "Rache", steht unter dem Videoschirm des Fernsehsenders ABC. Doch hier geht es nicht um Gefühle nach den Terrorattacken, sondern um die neueste, spannende Fernsehserie.

Die Menschen halten hier erst inne, als die Dudelsackpfeifer der New Yorker Polizei in einer düsteren Prozession um die Gedenkpools ziehen. Doch es ist nur eine Handvoll, welche den Moment der Stille respektiert, der exakt um 8:46 Uhr, dem Zeitpunkt des Einschlags des ersten Flugzeuges, stattfinden soll. "Wir werden niemals vergessen", steht auf der Tafel des amerikanischen Nationalgetränks Budweiser, bevor wieder eine Bierdose auftaucht. Nur die Versicherung Prudential hat abgeschaltet. Der Bildschirm bleibt schwarz. "Erinnerung an 9/11", steht da schlicht.

Die Opfer stammen aus der ganzen Welt

Wie werden Zahlen zu Schicksalen? New York ringt zehn Jahre nach dem Terror auch an diesem Gedenktag mit einer Antwort. 2982 Tote, das ist mehr, als die menschliche Vorstellung zu fassen vermag. Es hat an diesem Wochenende viele Versuche gegeben, die monströse Dimension des Geschehens begreifbar zu machen.

Unweit der Gedenkfeier ist ein anderer Versuch zu besichtigen, den Toten Raum zu geben. Schon seit 2002 steht die "The Sphere" genannte Skulptur des deutschen Künstlers Fritz Koenig, die einst den Vorplatz vor den Zwillingstürmen zierte, auf einer kleinen Rasenfläche in Battery Park. Zerbeult und durchlöchert ist das einst als Symbol des Weltfriedens gedachte Werk. 2982 Fahnen füllen hier den ganzen Park. Wie weiße Friedenszeichen wirken sie aus der Ferne. Erst aus der Nähe erkennt man, dass hier die Namen der Toten im Muster der amerikanischen Nationalflagge aufgestickt sind. Doch das rot-weiß-blau ist hier nur erstaunlich dezent. Nationalflaggen aus Dutzenden von anderen Ländern sind eingestreut. Eine libanesische Flagge steht in einer Reihe mit der israelischen, Schwarz-Rot-Gold ist genauso präsent wie das Schweizerkreuz. Unter den Wogen des amerikanischen Patriotismus' drohte in den vergangenen Wochen oft die Tatsache begraben zu werden, dass das World Trade Center wirklich ein Welthandelszentrum war. Dieser Ort hier wirkt wie eine Oase.

Ground Zero als größte Touristenattraktion der Stadt

Doch schlichtes Erinnern ist das Letzte, was der Stadt an diesem weltweit beachteten Wochenende vergönnt gewesen ist. Daran schuld war weniger der neueste Terroralarm, der im Straßenbild an vielen Stellen kaum zu erahnen war. Wer von den Vorstädten wie Queens und Brooklyn die U-Bahn nahm, sah auf dem Bahnsteigen kaum einen Polizisten. Selbst mitten in Manhattan war die Präsenz der Sicherheitskräfte erstaunlich diskret. New York hat eher das Problem, dass die Trauer so sehr im Visier der globalen Öffentlichkeit ist. So makaber es klingt: Ground Zero ist in diesen Tagen die größte Touristenattraktion der Stadt.

Die Digitalkameras klicken dort unaufhörlich. Eine Familie stellt sich vor dem Feuerwehrauto auf, an dessen Wände die Namen aller getöteten New Yorker Feuerwehrleute eingraviert sind, und blickt so fröhlich in die Kamera, als sei dies ein nettes Motiv für die Verwandten zu Hause. Matrosen des Kriegsschiffes "New York" sind gekommen, das symbolträchtig vor der Stadt ankert. Feuerwehrleute aus den ganzen USA parken in den Nebenstraßen ihre dicken Harley-Davidsons. "Gedenktour 2011 - New York - Pentagon - Shanksville", steht auf dem Begleitfahrzeug. "Ich finde das alles hier nur atemberaubend", sagt Feuerwehrmann Alan Hitchen, der auf eigene Faust aus Pittsburgh angereist ist. Ihm fehlt die Luft zum Atemholen.

Gefühle und Gedanken nehmen ihren freien Lauf

Direkt am Bauzaun hat die Stadt eine weiße Wand mit den Namen der Toten aufgestellt - als Einladung zu spontanen Reaktionen. Zwischen Fotos von Opfern, Bildern der Freiheitsstatue und salutierenden Feuerwehrleuten, Kinderzeichnungen und Gebeten, offenbart sich da, wie wenig sich die Erinnerung an den 11. September abseits der offiziellen Gedenkrituale einrahmen lässt. Als Erste durften hier die Angehörigen der Toten ihre Gefühle ausdrücken. Seither kann hier jeder seinen Gefühlen und Gedanken freien Lauf lassen.

Die mal hastig gekritzelten, mal in liebevoller Schönschrift der Wand anvertrauten Botschaften sind so spannungsreich wie die Erinnerung an den Schreckenstag. "Wir sind alle Brüder und Schwestern für immer", steht da. Oder: "Ich hatte so viel Glück, dass ich der Bombe 1993 entkommen bin - es tut mir so leid für euch". Oder auch: "Freiheit für Palästina."

Neue Gedenkstätte eingeweiht

Sarah Baragas aus Dallas wusste erst nicht, ob sie überhaupt hierhersollte. Ein Jahr vor den Terrorakten logierte die damals 14-Jährige in einem Hotel direkt gegenüber den Zwillingstürmen. Sie weiß noch, wie sie immer wieder staunend an ihnen emporblickte. Sie frühstückte in dem später zerstörten Restaurant "Windows of the World". Seitdem ist sie nie mehr in New York gewesen. Nun steht sie hier - und weiß nicht, wohin mit ihren Gefühlen. "Es ist so seltsam, dass all das, was ich damals gesehen habe, heute einfach weg ist." Als sie in diesem Jahr ihre Reise buchte, war ihr gar nicht bewusst, wie bedeutungsschwer das Datum werden würde. Nun hat sie Angst, an dem symbolbeladenen Datum in den Flieger nach Hause zu steigen. Sie blickt auf die Namen, fragt nach einem Kugelschreiber. "New York - wir lieben dich", kritzelt sie darunter. Sie weiß selber nicht, was sie genau empfindet. Dazu ist es hier nicht still genug.

Vielleicht wird dies in der am Sonntag eingeweihten Gedenkstätte einmal der Fall sein. Doch ringsum wird New York so bleiben, wie New York ist: lärmend und voller großer Gefühle, sentimental und betriebsam, voller zupackender Menschlichkeit - aber ohne Raum für Kontemplation.