Mit 99 fuhr er noch mit dem Auto durch den Flecken, mit 105 kümmerte er sich noch eigenhändig um den Abwasch. Weitere fünf Jahre später gilt Karl Haidle aus Kernen-Stetten als ältester Mann Deutschlands.
Hinweis: Karl Haidle ist am 1. November im Alter von 110 Jahren verstorben. Der folgende Artikel erschien zwei Tage vor seinem Tod.
Als Karl Haidle das Licht der Welt erblickt, schreibt man das Jahr 1915. In Europa tobt der Erste Weltkrieg, die deutschen Truppen setzen in der Ypern-Schlacht erstmals Giftgas ein, bei der Versenkung des britischen Passagierschiffs „Lusitania“ durch ein U-Boot sterben 1200 Menschen.
Jenseits des Abschlachtens ist aus dem Geburtsjahr des ältesten Mannes der Republik der rekordreife Höhenflug eines Schweizers erwähnenswert, der mit einer einsitzigen Maschine auf eine Höhe von sagenhaften 6600 Metern kommt.
Als Karl Haidle zur Welt kam, tobte in Europa der Krieg
In Dresden wird die Alpensymphonie von Richard Strauss uraufgeführt, Astronomen gelingt das erste Foto vom noch längst nicht als Planet eingestuften Pluto. Und: Um Wucher zu verhindern, werden Höchstpreise für Gemüse, Obst und Honig festgesetzt und ein Verkaufsverbot von Milch und Fleisch an Dienstagen und Freitagen eingeführt.
Von all dem bekommt Karl Haidle im beschaulichen Wengerterdorf Stetten im Remstal nichts mit, geboren am 2. September interessiert ihn nicht viel mehr als die Mutterbrust. Und die liefert offenbar reichlich Nährstoffe, die für ein ungewöhnlich langes Leben notwendig sind.
Älter als der 110-jährige Karl Haidle war in Deutschland laut einer Recherche der Waiblinger Kreiszeitung nur eine Frau aus Norddeutschland, aktuell 112 Jahre alt. Bestätigt worden ist die Aussage mit den beiden betagtesten Bürgern der Republik von Dr. Thomas Breining.
Hauptberuflich als Arzt im Universitätsklinikum in Ulm beschäftigt, forscht der Mediziner im Nebenamt für die Gerontology Research Group über die Langlebigkeit im deutschsprachigen Raum. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Erfassung und Validierung von sogenannten Höchstbetagten – also Menschen, die die magische Marke von 110 Lenzen überschritten haben.
Aus Sicht eines Altersforschers sind 110 Jahre bei Männern eine absolute Seltenheit
Aus Sicht von Breining ist der Stettener ein absoluter Ausnahmefall – weil er ein Mann ist. „Es ist extrem selten, dass Männer dieses Alter erreichen“, sagt der Mediziner. Bei Frauen kommt Langlebigkeit deutlich öfter vor, der 110er-Club hat nicht nur eine einzige Vertreterin. Beim vermeintlich starken Geschlecht ist das anders, der zweitälteste Mann nach Karl Haidle ist ein 109-jähriger Pfarrer namens Bruno Kant.
Dass dieses Alter seinen Tribut fordert, liegt auf der Hand. Ein Besuch des außergewöhnlichen Seniors war nicht mehr möglich. Bis ins zarte Alter von 99 Jahren ist Karl Haidle noch höchstpersönlich mit seinem Auto durch den Flecken gefahren, auch in seinem Wengert hat der Methusalem aus dem Remstal noch geschafft. Und auch seinen Haushalt hat Karl Haidle lange eigenhändig erledigt – selbst mit 105 hat er den Abwasch noch selbst gemacht.
„Er hat körperlich etwas abgebaut und läuft ein bissle wackeliger, aber geistig merkt man gar nichts“, sagte sein Schwiegersohn Manfred Gerlich seinerzeit über den rüstigen Senior, der täglich ausgiebig die Zeitung las, einen Rollator als Gehhilfe ablehnte und drei Jahrzehnte lang quasi nicht beim Arzt war.
Heimatverein dreht Film anlässlich seines 100. Geburtstages
Seine Lebensgeschichte konnte der Stettener, übrigens nur ein Namensvetter des bekannten Weinguts, deshalb niemand mehr erzählen. Wer mehr über den ältesten Mann Deutschlands erfahren will, sei auf einen Film verwiesen, den der Heimatverein Allmende Stetten vor Jahren im Rahmen des „Projekts Dorfgedächtnis“ gemacht hat. Das Video besteht aus einem Interview mit dem damals noch zweitältesten Stettener Bürger, historischen Fotos und Originalaufnahmen von der Feier zum 100. Geburtstag von Karl Haidle, inklusive des Ständchens vom Männerchor für den Jubilar. Bei der Premiere in der Glockenkelter reichten 2017 die vorhandenen 180 Sitzplätze für den Publikumsandrang nicht aus.
Viel ist in dem Film über den Mann, der zwei Weltkriege erlebt hat, auch von Karl Haidles eigener Militärzeit die Rede. Nach seiner Ausbildung zum Mechaniker in Fellbach kam der Stettener während der NS-Diktatur zum Reichsarbeitsdienst an die Bergstraße und nahm 1936 als „Soldat der Arbeit“ am Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg teil. Nach einem einjährigen Intermezzo als Revolverdreher beim Daimler in Untertürkheim wurde er 1937 zu den Gebirgsjägern nach Garmisch eingezogen. Ab September 1939 machte er als Meldefahrer auf seinem BMW-Motorrad sämtliche Feldzüge der deutschen Wehrmacht mit – von Dünkirchen am Atlantik bis zum Fuße des Elbrus im Kaukasus.
Den Krieg überlebte Karl Haidle wie durch ein Wunder unverletzt und ohne gesundheitliche Schäden – obwohl er 1944 in jugoslawische Gefangenschaft kam und erst vier Jahre später nach Stetten zurückkehrte. Seine beiden Brüder waren im Feld geblieben, der Heimkehrer musste die elterliche Landwirtschaft übernehmen. „Jetzt geht es wieder los mit dem Krieg“ soll Karl Haidle gesagt haben, als vor drei Jahren die Nachricht vom russischen Überfall auf die Ukraine um die Welt ging.
Seine Ehefrau hatte Karl Haidle überlebt, seine 1956 geborene einzige Tochter ebenso. Der bislang älteste Deutsche, Gustav Gerneth, wurde 114 Jahre und 6 Tage alt. Als ältester Mensch weltweit gilt Jeanne Calment, die mit 122 Jahren und 164 Tagen aus dieser Welt ging.