1900 ist der erste Guide Michelin erschienen. Damals war es ein Handbuch für Chauffeure. Ganz ohne Restaurants. Foto: Michelin
Die mächtigste Restaurantbibel der Welt will sich neu erfinden. Wie aber macht sie das? Mit einem Blick zurück auf ihre Anfänge und einem überraschenden Schritt Richtung Wein.
Um kaum einen Job ranken sich so viele Legenden wie um den der Michelin-Tester: Reisen sie allein? Lassen sie die Serviette fallen, um die Zeit zu stoppen, wie lange es dauert, bis eine neue gebracht wird? Gehen die Tester nach einem Löffel Eis auf die Toilette, um zu schauen, ob es dahinschmilzt oder ein neues gebracht wird?
Der Michelin hat nach Paris geladen, um erstmals seine globale Liste der ausgezeichneten Hotels vorzustellen. Aber auch, um zu zeigen, wie der Guide Rouge die Zeitenwende gestalten möchte. Gwendal Poullennec, Guide-Michelin-Chef, lässt eine Stimme aus dem Off zuschalten. Im prunkvollen, historischen Stadtpalais Pozzo di Borgo, der ehemaligen 1000-Quadratmeter-Wohnung Karl Lagerfelds, grüßt eine Inspektorin. Ihr Akzent: charmantes britisches Englisch.
Das Leben einer Michelin-Inspektorin
Mit gebührender Eleganz und Sachverstand berichtet sie aus ihrem Leben: Wie sie sich auf die Stelle bewarb, wie kaum jemand aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis weiß, was sie genau macht. „Meine Anonymität ist essenziell“, sagt die Senior-Inspektorin, die diesen Job seit 25 Jahren ausübt. Sie erzählt von ihrem Vorstellungsgespräch, den vielen Restaurantbesuchen, die sie selbst plant, und von den wichtigen „Sterne-Meetings“ mit ihren Kollegen, in denen festgelegt wird, wer Sterne bekommt oder verliert.
Der Chef der Chefs: Gwendal Poullennec, Direktor des Guide Michelins. Foto: Guide Michelin
Es sind ungewöhnliche Einblicke in den Guide Michelin, sozusagen das päpstliche Konklave unter den Restaurantführern. Doch Poullennec legt gleich Eckpunkte fest, die in Paris nicht thematisiert werden: die Anzahl der weltweit arbeitenden Tester und der damit generierte Umsatz. Ansonsten zeigt man sich überraschend offen und erläutert das Geschäftsmodell im Jahr 2025.
Dazu muss man 125 Jahre zurückgehen: Damals wurde die rote Bibel erstmals gedruckt, um den Reifenverkauf anzukurbeln. Die Brüder André und Édouard Michelin ließen 35 000 Exemplare drucken und verteilten sie kostenlos unter französischen Chauffeuren. Die fanden darin Tipps für Auto und Reifen, aber eben auch Adressen von Werkstätten, Batterieladestationen und Benzindepots. Und wenn das Auto tatsächlich zur Reparatur muss, muss man die Zeit in Herbergen verbringen. Erst 1923 werden die ersten Restaurants aufgenommen. Und so entsteht die bekannte Sternebewertung, aufgegliedert nach einem Stern („einen Stopp wert“), zwei Sternen („einen Umweg wert“) und drei Sternen („eine Reise wert“).
Der Guide Michelin ist längst in der Popkultur angekommen
Der Guide Michelin mit seinen Testern, von denen niemand weiß, wie sie aussehen, ist längst in der Popkultur angekommen: Die Simpsons, Louis de Funès, Filme wie „Ratatouille“ oder Serien wie „The Bear“ spielen geschickt mit all den Mythen, die sich um die Marke ranken.
Guide Michelin bewertet nicht nur Restaurants
Aber: Die rote Bibel muss sich auch immer wieder neu erfinden, expandieren und vor allem digital bestehen. Seit 2024 bewertet der Guide Michelin nicht mehr nur Restaurants, sondern auch Hotels, wie ganz zu Beginn, als der Guide an die Chauffeure verteilt wurde.
Was der Guide der Gourmets in den letzten Jahren geschafft hat, ist die Vollendung des digitalen Wandels. Die roten Bücher werden kaum mehr gedruckt, allenfalls in Liebhaber-Ländern wie Frankreich; dank Smartphones hat jeder die Empfehlungen per App dabei. In Paris wird bestätigt, dass sich die Bibel der kulinarischen Exzellenz in den Nullerjahren in einer schwierigen Situation befand. Die gedruckte Ausgabe, die sich auf europäische Länder konzentrierte, war nicht zukunftsfähig, wie Florent Menegaux, CEO von Michelin, bei der Präsentation erklärte.
Für Poullennec war vor allem die Einführung des Guide Michelins in Japan im Jahr 2007 entscheidend, da sich der Guide nun auch erstmals außerhalb der westlichen Gourmandise bewegte. „Das hat gezeigt, dass der Michelin-Führer mit seiner einzigartigen Methodik in der Lage ist, alle verschiedenen Esskulturen zu berücksichtigen und anzuerkennen“, so Poullennec. Und weiter: „Der Michelin-Führer hat die Verbreitung der japanischen Esskultur außerhalb Japans gefördert.“
Ein radikaler Schritt, um die Zeitenwende zu schaffen
Heute gibt es 60 Destinationen, in denen die Inspektoren unterwegs sind. Und da sie bei ihren Restaurantbesuchen auch häufig übernachten müssen, lag es nahe, auch Hotels mit in die Bewertung aufzunehmen. Analog zu den Sternen werden seit 2024 auch Schlüssel verliehen. Während die Tester bei den Restaurants angeblich nur nach dem schauen, was sich auf dem Teller abspielt, scheint das Bewerten von Hotels komplex. „Die Suche nach einem authentischen Ort ist auch immer eine Frage des Geschmacks“, sagt Poullennec. Es geht also um Architektur, Lage, Authentizität, Willkommenskultur, Gastgebertum und vieles mehr. Noch ein Unterschied ist, dass Hotels meist langlebiger sind als Restaurants.
Ein radikaler Schritt, um die Zeitenwende zu schaffen. Und um sich noch ein Zusatzbrot zu verdienen: Die Hotels lassen sich direkt über die App buchen, der Michelin erhält eine Provision. Eines der vielen Modelle, wie das nicht gerade kostengünstige Konstrukt des Michelin finanziert wird. Bei neuen Destinationen wie beispielsweise Österreich, Thailand oder amerikanischen Städten arbeitet der Michelin mit Tourismusagenturen zusammen. Inzwischen gibt es mehr als 40 solcher Partnerschaften. Was die Kunden nicht erfahren: wie viele Restaurants werden getestet und welche schaffen es in die Selektion. „Die Unabhängigkeit ist das höchste Gut“, sagt Poullennec.
Michelin hat sofort Auswirkungen
Lohnt sich eine solche Investition für ein kleines Land wie etwa Slowenien? Spitzenköchin Ana Ros weiß zu berichten, wie sehr man den Boost spürt, als ihr Restaurant Hisa Franko in dem Miniörtchen Kobarid von einem auf drei Sterne aufgewertet wurde: „Man merkt das sofort. Auf einmal kommen Buchungen aus den Nachbarländern Italien und Österreich, aber auch aus Deutschland.“ Und: „Die Gäste sind kulinarisch gebildeter.“
Der Koch Thomas Bühner kennt sich aus mit den Sternen: Sein legendäres Restaurant La Vie in Osnabrück war mit drei Sternen dekoriert. Sein neues Lokal in Düsseldorf wurde 47 Tage nach Eröffnung mit einem ausgezeichnet. Er kennt die alten Zeiten, in denen Steinbutt in Champagnersauce serviert wurde, aber eben auch die Gegenwart, in der das Regionale eine immer wichtige Rolle einnimmt. „Der Michelin hat eine weltweite Wertigkeit, die ihn so besonders macht“, sagt Bühner.
Michelin-Sterne zeigen sich in der Preisgestaltung
Sterne haben natürlich auch Auswirkungen auf die Preisgestaltung der Fine-Dining-Restaurants, die international um Aufmerksamkeit buhlen, die sie in diesem Preissegment benötigen. Das Hamburger Restaurant 100/200 (ausgezeichnet mit zwei Michelin-Sternen) hat unter demselben Dach noch das A-la-carte-Restaurant Glorie eröffnet, das dieses Jahr ebenfalls einen Michelin-Stern bekam. „Es macht mich total glücklich und stolz“, sagt Küchenchef Thomas Imbusch: „Doch was bedeutet das heutzutage eigentlich noch? Der Michelin ist eine Währung. Die ist aber in einem Umbruch.“ 100/200-Gastgeberin Sophie Lehmann sieht das optimistischer: „Durch die technische Aufarbeitung wird der Guide wieder als Informationstool genutzt. Es ist ein Sammelsurium von Adressen mit einem Mindestmaß an Qualität.“
Sophie Lehmann, Gastgeberin im 100/200. Foto: René Flindt
Weitere Neuigkeiten beim Guide Michelin
Der Guide Michelin ist im digitalen Zeitalter angekommen. Abseits von Yelp und Google kann man sich hier orientieren. Die Tester sind unbestechlich, nichts wird gelöscht. Hier sind nicht nur Sternerestaurants gelistet. Sondern auch preisgünstigere Bib-Gourmand-Adressen und weitere Restaurants, in denen man gut speisen kann. „Es ist von Menschen bewertet, die das als Profession haben“, nennt Lehmann den großen Pluspunkt der kuratierten Listen.
Der Guide Michelin will die Marke weiterentwickeln. Bereits 2019 übernahm der Reifenkonzern den bekannten Weinführer Robert Parker’s Wine Advocate. Genau möchte sich Poullennec nicht zu den Plänen äußern. Im Dezember soll die Neuigkeit verkündet werden. Und genau das hat der Michelin schon immer am besten verstanden: nicht nur Essen zu bewerten, sondern Sehnsüchte zu wecken.
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