Die 125-jährige Geschichte des VfB Stuttgart ist auch die Geschichte seiner Stimmungsmacher. Ein Fan der ersten Stunde erinnert sich an die Anfänge der Fankultur im Stadion zurück.

Sport: Gregor Preiß (gp)

Stuttgart - A wie Anfang. Oder A wie A-Block. Wo alles begann. Die Geschichte der aktiven Stuttgarter Fan-Szene. Ein kleiner Flecken Beton mit Platz für 2000 Anhänger, erster Stehplatzblock in der Cannstatter Kurve direkt angrenzend an die Haupttribüne. Daher das A.

 

Mitte der 70er-Jahre muss es gewesen sein, als erstmals Stimmung in die Bude kam. Mit dem Umbau zum WM-Stadion 1974 zog es die „Hartgesottenen“ weg von der Gegentribüne hoch unters Dach. Auf die Stehränge, wo es sich besser singen, anfeuern, schreien, fluchen lässt. Die Engländer machten es vor.

Vau, Vau, Vau Eff Beh!

„Das war ein ziemlich bunter Haufen“, erinnert sich Bernd-Michael Jetter, ein Mann der ersten Stunde. Familienväter, Berufsanfänger, Studis, junge Typen wie er. 1976 war Jetter bei der Gründung des Fanclubs Leonberg dabei. Zu dieser Zeit formierten sich an mehreren Orten organisierte Treffs. Viele im Umland wie in Berkheim oder Plochingen, weshalb die meisten mit der Regionalbahn in ihr Samstags-Abenteuer starteten. Vom Cannstatter Bahnhof ging es die Daimlerstraße runter zum Neckarstadion. Mit Zwischenstopp im Cronmüller (wo es heute noch aussieht wie damals) zum Treffpunkt an der Stadiongaststätte. Weil der Fan ein bequemes Wesen ist und es sich beim A-Block um den nächstgelegenen, überdachten Block handelte, war die Wahl schnell gefallen. Über 20 Jahre wurde der A-Block so zum Inbegriff für die Fankurve des VfB Stuttgart.

Erst Stimmungstempel, dann Tristesse

Jetter schwärmt noch heute von damals. „Die Stimmung im Neckarstadion“, sagt er, „war bombastisch zu dieser Zeit“. Nach dem Aufstieg 1977, als die Weiß-Roten mit Wundermann Sundermann die Bundesliga und die Herzen der Fans im Sturm eroberten. Gemeinsam mit dem Lauterer Betze sei das Neckarstadion die stimmungsvollste Arena jener Zeit gewesen, erinnert sich der Dunkelrote. Die riesige Betonschüssel als Stimmungstempel – kaum vorstellbar eigentlich. „Wenn’s voll war, schon“, sagt Jetter. Die Wechselgesänge von A-Block und Gegengerade seien „einzigartig“ gewesen. Von der heute legendären Dortmunder „Süd“ sprach damals noch kein Mensch.

Doch irgendwann kam der Bruch. Der Stimmungsumschwung. In den 80ern entdeckten die Schläger den Fußball als Spielwiese. Auch in Stuttgart. Irgendwann ließ sich der gewaltsuchende Rand der Hooligans – wieder war England Vorreiter – von den organisierten Fanclubs nicht mehr kontrollieren und brach sich seinen Weg. Auch die Fankurve veränderte sich. Es kam zum Generationenwechsel, Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre war die Stimmung auf einmal dahin.

„Es gab keine Hierarchie mehr, keinen, der den Takt vorgab“, erinnert sich der heute 57-Jährige. Die dröge Atmosphäre hielt auch viele normale Zuschauer vom Besuch ab. Zum letzten Heimspiel der Meistersaison 1991/92 gegen Wattenscheid 09 verloren sich gerade einmal 33 000 im weiten Rund. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar.

Damals war auch das Verhältnis zum Verein mehr als angespannt, erzählt der Edel-Fan. Was sich unter anderem am damaligen Manager Dieter Hoeneß festmachte. Der wollte mit dem Alligator Fritzle als Maskottchen auf den beginnenden Event-Zug im Fußball aufspringen. Statt eines grünen Hampelmanns hätten die organisierten Fans lieber Äffle und Pferdle an der Seitenlinie herumhüpfen sehen, doch sie fanden kein Gehör. Weil Mitsprache und Basisdemokratie zu dieser Zeit noch ein Fremdwort waren. Jetter spricht rückblickend von einem „regelrechten Zerwürfnis“. Der VfB war Meister, der Anhang vergrätzt. Woraufhin der Verein mit dem Aufbau der Fan-Betreuung reagierte.

Dann kamen die Ultras

Und wieder tat sich Entscheidendes. Die zunächst in Frankfurt, später auch in anderen Städten aufkommende Ultra-Bewegung nahm Mitte der 90er-Jahre ihren Anfang. Zunächst begann eine kleine Gruppe auf den Sitzplätzen direkt hinter dem Tor (den so ziemlich unattraktivsten Plätzen) ihr eigenes Spektakel zu veranstalten. Mit Blockfahnen und Dauergesang, was der große Rest des Stadions als bestenfalls irritierend empfand, wenn das seltsame Grüppchen selbst bei den deprimierendsten 0:3-Pleiten einfach fröhlich weiterfeierte.

Die Ultra-Bewegung war geboren und organisierte sich 1997 als Commando Cannstatt als feste und bis heute größte und wohl einflussreichste Fan-Gruppierung. Von den Grasnarben-Plätzen hinterm Tor zog es sie zunächst direkt unter den A-Block, mit dem Umbau dann an den Rand der Haupttribüne. Der A-Block war mehr oder weniger bedeutungslos geworden. Heute erinnern nur noch der Name des Fan-Treffs in der Cannstatter Kurve und die letzten verbliebenen Kuttenträger an den Ursprungsort der Stuttgarter Fankultur.

Heute zelebriert die komplette Kurve (die längst keine Kurve mehr ist) die Heimspiele, feiert ihre Helden und ein bisschen auch immer sich selbst. „Ich sehe in Stuttgart eine sehr positive Ultra-Entwicklung“, sagt Jetter, der auch nach über 40 Jahren immer noch dabei ist (mittlerweile als Haupttribünenhocker). Die vielerorts zu beobachtende Spaltung habe es im VfB-Zirkel nie gegeben. Auch deshalb, so Jetter, weil das Stuttgarter Publikum „nie besonders politisch war“. Dafür umso begeisterungsfähiger. Meistens zumindest.

Zur Person Bernd-Michael Jetter

Bernd-Michael Jetter (57) hält dem VfB seit mehr als 40 Jahren die Treue. Als Mitgründer des OFC Leonberg gehörte der Rechtsanwalt mit zu den ersten Fußballfans, die sich gemeinschaftlich zusammenfanden, um ihren Herzensclub zu unterstützen. Jetter hat alle Höhen und Tiefen des VfB miterlebt. Heimspiele vor 2000 Zuschauern in der zweiten Liga gegen den SSV Reutlingen („Da haben wir im Stadion Fangerles gespielt“), aber natürlich auch die viel zahlreicheren Höhepunkte mit den Meisterschaften 1984, 1992 und 2007. Als persönlichen Höhepunkt in 40 Jahren Fangeschichte bezeichnet Jetter den Sieg in der Champions League gegen Manchester United 2003 sowie den Auswärtsauftritt in der Europa League bei Celtic Glasgow.