Das Örtchen Littleton im US-Bundesstaat Colorado ist bis heute vom Amoklauf an der Columbine High School im April 1999 gezeichnet. Die Hinterbliebenen können nicht vergessen. Unser Korrespondent Damir Fras auf Spurensuche .

Littleton - Erst vor ein paar Wochen durchfuhr ihn die Erinnerung wieder wie ein glühendes Eisen. In den Nachrichten hieß es, in der gut 15 Kilometer entfernten Arapahoe High School im Nachbarstädtchen Centennial sei es zu einer Schießerei gekommen. Ein junger Mann habe erst eine 17-jährige Mitschülerin und dann sich selbst erschossen. Bob Curnow sagt, er habe sich in diesem Moment gefühlt wie damals vor bald 15 Jahren, als die Nachricht ihm selbst galt. Der hagere, schlecht rasierte Mann steht vor einer Marmorplatte, die er mit einem gelben Besen gekehrt hat. Curnow holt tief Luft, als habe ihn das Fegen sehr angestrengt. Dann presst er die Worte hervor: „Das erinnert an Steven, meinen Sohn. Er war der Jüngste unter allen Opfern des Massakers von Columbine.“ Am Horizont leuchten die Rocky Mountains im Sonnenlicht. Und Curnow ist wieder einmal den Tränen nahe.

 

Bob Curnow kann den Tod seines Sohnes nicht vergessen. Foto: Fras
Am 20. April 1999 betreten der 18-jährige Eric Harris und sein 17 Jahre alter Freund Dylan Klebold die Columbine High School in Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Sie schießen wahllos in die Menge. Zwölf Schüler und ein Lehrer sterben im Kugelhagel. Harris und Klebold verletzten noch 24 Mitschüler, bevor sie sich in der Bibliothek der Schule selbst töten.

Steven Curnow wird später erschossen in der Bibliothek gefunden. „Wahrscheinlich wollte er seinen Mitschülern helfen“, sagt sein Vater Bob und unterbricht für einen Moment die Arbeit an den Marmorplatten, die in einer Gedenkpark hinter der Schule an die Opfer erinnern. „Ich kann das nicht beweisen, aber so war Steven. Er dachte immer an die anderen.“ Steven wird nur 14 Jahre alt, er ist ein Freshman, wie man die Schüler der neunten Klasse an amerikanischen High Schools nennt.

Auf der Marmortafel steht eine Geschichte. Als Steven zehn Jahre ist, fliegt er zum ersten Mal in einem Flugzeug. Die Maschine ist auf dem Weg nach England und gerät in heftige Turbulenzen. Der Rest der Familie ist mächtig beeindruckt, nur Steven ruft am Ende aus: „Wow! Das war cool! Können wir das noch mal machen?“ Steven träumt davon, Marineflieger zu werden.

Jahrelang hat Bob Curnow das Denkmal für die Toten geplant

Bob Curnow muss schlucken, als er die Geschichte erzählt. Das Massaker von Columbine, eines der schlimmsten in der langen Geschichte von Amokläufen in den USA, hat sein Leben verändert. Der 64-Jährige sagt mit einem Unterton von Galgenhumor: „Lassen Sie es mich so sagen: Mein Leben hat sich nicht ganz so entwickelt, wie ich gedacht hatte.“ Curnows ohnehin belastete Ehe geht vollends in die Brüche. Der Landvermesser verliert seinen Job, will auch nicht mehr den Fußballnachwuchs von Littleton trainieren. Jahrelang ist er damit beschäftigt, das Denkmal für seinen Sohn und die anderen Toten von Columbine zu planen. Er besucht die Eltern der Mörder und sagt ihnen: „Ihr habt keine Schuld.“

Curnow ist ein gebrochener Mann. Er sagt, seine Freunde seien es über die Jahre leid geworden, immer nur dieselben Geschichten von ihm zu hören.  Seine Ohren haben nachgelassen, und er zieht das Bein nach: „Ich habe Diabetes.“ Das Geld für eine anständige Behandlung fehle ihm. 

An diesem eiskalten Tag fegt Curnow gedankenverloren die Marmorplatten, rückt sich ab und zu die blaue Baseball-Mütze mit dem Harley-Symbol auf dem Kopf zurecht und sagt: „Steven wird für mich immer 14 Jahre alt sein.“ Dann hält er inne und schickt den Satz hinter: „Es ist irgendwie verrückt, dass ich den Namen meines Sohnes googeln kann.“ Seine Augen verbirgt Curnow für gewöhnlich hinter einer großen, schwarzen Sonnenbrille.

Das Massaker, eingebrannt ins kollektive Gedächtnis

Das Massaker von Columbine hat sich in das kollektive Gedächtnis der Amerikaner eingegraben. Jeder neue Amoklauf bringt automatisch die Erinnerung an den Amoklauf von 1999 hervor, den der Filmemacher Michael Moore in seiner Dokumentation „Bowling for Columbine“ verewigt hat.

Als im Sommer 2012 ein junger Student zwölf Menschen in einem Kinosaal in Aurora tötet, das nur eine halbe Stunde Autofahrt von Littleton entfernt ist, ist von Columbine die Rede. Als im Dezember desselben Jahres 20 Schulkinder und sechs Erwachsene in Newton in Neuengland im Kugelhagel aus dem Schnellfeuergewehr von Adam Lanza sterben, wird der Vergleich zu Columbine gezogen.

Als dann vor ein paar Woche die Schüsse im Nachbarstädtchen  Centennial fallen, wird Curnow – so sehr er sich auch dagegen wehren mag – wieder an den Tod seines Sohnes erinnert. „In solchen Momenten erlebe ich den 20. April 1999 immer wieder aufs Neue, jedes Detail.“

Columbine ist das Ende der Illusion, dass solche Sachen nur in den Dschungeln der Großstädte geschehen – inzwischen werden nahezu zweimal pro Woche  Schießereien an amerikanischen Schulen gemeldet, zwölf sind es schon in diesem Jahr. Aber Columbine markiert auch den Beginn eines beispiellosen   Alarmzustandes, der seit fast 15 Jahren herrscht.

Amok-Alarm gibt es alle paar Tage

Auf dem Parkplatz hinter der Columbine High School steht an diesem Tag der Polizeibeamte J. W. Taylor. Er ist ein kräftiger Mann, der bei der Armee gedient und vor vielen Jahren einen Deutschkurs in Garmisch-Partenkirchen absolviert hat. Viel ist ihm davon nicht im Gedächtnis geblieben, aber für solche Erinnerungen hat er gerade auch gar keine Zeit. Denn es ist wieder einmal Alarm in Littleton. Ein anonymer Anrufer „mit ausländischem Akzent“ habe vor einer halben Stunde am Telefon gedroht, er werde mit einem Schnellfeuergewehr zur Schule kommen und schießen, sagt Taylor. Die Schüler müssen im Gebäude bleiben. Taylor muss auf dem Parkplatz Wache halten und dafür sorgen, dass sich niemand der Schule nähert, der dazu nicht berechtigt ist. Er gibt Personalien von Passanten an die Zentrale weiter, schaut in Autos nach, ob dort etwa Waffen verborgen sind.

Taylor sagt, so etwas komme rund um die Columbine High School alle paar Tage vor: „In der Schule meiner Tochter geschieht das zweimal im Monat.“ In der Regel passiert nichts, wird der Alarm nach kurzer Zeit wieder aufgehoben. An diesem eisigen Tag ist es nach kurzer Zeit auch so. Aber man könne ja nie wissen, sagt der Polizist Taylor, der schon wieder in sein Funkgerät flüstert und die Lage durchgibt – nichts Neues auf der rückwärtigen Seite der Columbine High School.

Bob Curnow hat von dem Alarm nichts mitbekommen. Die Gedenkstätte für die Opfer von Columbine ist durch einen Hügel vom Schulgelände getrennt. Curnow hat inzwischen die meisten Marmortafeln gekehrt und macht eine Pause. Er sagt, es gebe ja Leute, die glaubten, mit strengeren Waffengesetzen ließen sich Massaker vermeiden. „Ich glaube das nicht. Waffenkontrolle, das ist doch wie die Prohibition. Die Leute wollten trinken, also haben sie einen Weg gefunden.“ Das klingt resigniert. Curnow wirkt auch tatsächlich so, als habe er den Kampf aufgegeben. Er ist nach dem Tod seines Sohnes kein Aktivist geworden. Er trauert still. Er sagt: „Die Leute haben sich doch schon immer umgebracht.“