Die Arbeitsgemeinschaft Stadtgeschichte Stuttgart (AgS) hat am Samstag in den Vortragssaal des Stadtarchivs eingeladen. Der 16. Tag der Stadtgeschichte rückt die Entwicklung von Wirtschaft und Industrie in den Fokus.

Stuttgart - Nimmt man den 16. Tag der Stadtgeschichte zum Maßstab, muss einem um das Interesse an lokalhistorischen Themen nicht allzu bange sein. Im Gegenteil: Mit rund 200 Besuchern war der Vortragssaal des Stadtarchivs, in den die Arbeitsgemeinschaft Stadtgeschichte Stuttgart (AgS) am Samstag eingeladen hatte, bis auf den letzten Platz gefüllt. Das überforderte dann freilich prompt die Lüftungstechnik des Saals, den der AgS-Vorsitzende Ulrich Gohl in seiner Begrüßung noch als „einen der bestbelüfteten in der Stadt“ bezeichnet hatte: Keine zehn Minuten nach Beginn der Veranstaltung mussten erst einmal alle Fenster aufgerissen werden. Die CO2-Ampel zeigte allzu dicke Luft an.

 

Dass in Zeiten der Pandemie das Interesse der Stuttgarter an ihrer Vergangenheit möglicherweise sogar zugenommen haben könnte, darauf machte Katharina Ernst in ihrem Rückblick auf das Archivjahr aufmerksam. So hätten beispielsweise überraschend viele Bürger die Corona-Zeit dazu genutzt, Familienforschung zu betreiben, berichtete die neue Leiterin des Stadtarchivs.

Corona macht es auch der stadtgeschichtliche Forschung nicht einfach

Schwierig war es freilich, die stadtgeschichtliche Forschung während dieser Zeit öffentlich zu präsentieren: So erinnerte Ulrich Gohl an die AgS-Ausstellung zur Stuttgarter Wirtschaftsgeschichte, die im Herbst 2020 im Stadtpalais zu sehen war. Die Schau, die coronabedingt unterbrochen werden musste, legte den Fokus auf Stuttgarter Unternehmen, die jenseits von Daimler und Bosch einst große Bedeutung in der Stadt hatten. „Die Vorträge zu weiteren Betrieben und zur historischen Einordnung der lokalen Forschungsergebnisse fielen dann Corona zum Opfer“, so Gohl. Mit dem Tag der Stadtgeschichte, der das Thema Firmengeschichte erneut aufgriff, sollte dies nun wenigstens teilweise nachgeholt werden.

Besonders spannend: Im zentralen Vortrag der Veranstaltung stellte Jürgen Lotterer vom Stadtarchiv die häufig in der Geschichtsforschung wiederkehrende These in Frage, wonach Stuttgarts Industrialisierung im 19. Jahrhundert durch zahlreiche strukturelle Nachteile gekennzeichnet gewesen sei. Lotterer spricht in diesem Zusammenhang von einer fortlaufenden „Erzählung der widrigen Umstände“: schlechte Verkehrswege, wenige Bodenschätze, geringe Energieproduktion, Platzmangel. Innerhalb dieser „Verspätungserzählung“ sei der sich dann doch irgendwann einstellende wirtschaftliche Erfolg im Wesentlichen der puren Schaffenskraft und dem sprichwörtlichen Fleiß der Unternehmer zu verdanken gewesen, deren Wurzeln angeblich vor allem in kleinen Handwerksbetrieben gründeten.

Weitere Vorträge örtlicher Geschichtsvereine

Möglicherweise eine allzu gern kolportierte Legende. Denn ganz so schlecht seien die Voraussetzungen in Stuttgart, nach Lotterers Ansicht, eben dann doch nicht gewesen. „Residenzstadt-Industrialisierung“ nennt der Historiker das Phänomen, das ein Gutteil des wirtschaftlichen Erfolgs der Stadt erklären könnte. Denn die Residenzstadt sei eben immer auch schon „administratives und kommunikatives Zentrum“ gewesen, wo sich auffällig viele umsatzstarke Produzenten von Luxus-Gütern entwickeln konnten. Hersteller von vergleichsweise teuren Waren, die mit einem relativ niedrigen Energieeinsatz produziert werden konnten: Instrumente, Schokolade oder auch hochwertige Textilien.

Weitere Vorträge örtlicher Geschichtsvereine widmeten sich am Samstag der Hauff AG, einer photochemischen Fabrik in Feuerbach, den Lokomobilen der Firma Assmann & Stocker und dem Anteil jüdischer Fabrikanten bei der Industrialisierung Cannstatts. Günter Riederer vom Stadtarchiv machte in seinem Vortrag auf die Geschichte des Stadtarchiv-Gebäudes im Bellingweg 21 aufmerksam. Einst war der Backsteinbau das Lagerhaus des Großeinkaufsvereins der Kolonialwarenhändler Württembergs. „Kaum jemand hat in früheren Zeiten darüber nachgedacht, dass diese Waren durch koloniale Ausbeutung erwirtschaftet, mit dem Einsatz von Sklaverei produziert und mit einem auf Raubbau ausgelegten Plantagensystem hergestellt worden waren“, so Riederer.