Das Chaos gehörte schon immer zu 1860 München – doch mit dem Investor Hasan Ismaik ist es bei den Löwen erst so richtig turbulent geworden. Jetzt hat der Jordanier Verstärkung vom FC Liverpool geholt.

München - Das Schnitzel ist längst kalt, die Cola warm – Christl Estermann kommt nicht dazu, sich ihrem Mittagessen zu widmen. Irgendwas kommt immer dazwischen. Mal klingelt das Telefon, mal kommt einer an ihren Tisch und fragt nach Tickets für das Heimspiel gegen den VfB Stuttgart. Die Frau mit den platinblonden Haaren legt das Besteck beiseite und kramt in ihrer mit goldenen Pailletten besetzten Handtasche, bis sie zwischen all den Arzneimittelpackungen ein verknittertes Kärtchen herausfischt. „Na also“, sagt sie. „Do is’s ja.“

 

Christl Estermann, Mitte 70, ist so etwas wie das Herz des TSV 1860 München, das nirgendwo lauter schlägt als in ihrem Löwenstüberl in Giesing. Seit mehr als 20 Jahren ist sie die Wirtin des holzgetäfelten Gastraumes neben dem Eingang des Vereinsgeländes, in dem die Männer schon vormittags beim Weißbier über Fußball reden. Wimpel, Fotos und Zeitungsausschnitte hängen an der Wand und erinnern daran, dass 1860 einmal die klare Nummer eins in der Stadt war. Lange vorbei sind diese Zeiten – eines aber, sagt Christel Estermann, sei noch immer gleich geblieben: „Mir Sechzger san a große Familie.“

1860 hat Originale wie Merkel und Wildmoser hervorgebracht – aber keinen wie Ismaik

Seit inzwischen sieben Jahren allerdings führt die Löwen ein Oberhaupt, das es dem Rest der Rudels nicht leicht macht, so bedingungslos zu folgen wie die Wirtin: der Jordanier Hasan Ismaik. Der Irrsinn und das gelebte Chaos gehören zwar seit je zur DNA des Clubs, der Originale wie Max Merkel, Werner Lorant oder Karl-Heinz Wildmoser hervorgebracht hat. Mit dem Milliardär aus dem Nahen Osten aber, der sich bei seinen Besuchen mit einer Maybach-Flotte durch München chauffieren lässt, hat ein besonders denkwürdiges Kapitel im ewigen Komödienstadl des Traditionsvereins von 1860 begonnen. Einen solchen Regenten haben noch nicht einmal die Löwen erlebt.

Im Mai 2011 ist Hasan Ismaik als erster ausländischer Investor im deutschen Profifußball eingestiegen und hat den Verein vor der Insolvenz bewahrt. Für 18 Millionen Euro sicherte er sich 60 Prozent der Aktien der ausgegliederten KGaA. Die 50+1-Regel wurde mit juristischen Tricks ausgehebelt, die Deutsche Fußball-Liga (DFL) drückte beiden Augen zu – und schaut auch seither weg, wenn Ismaik die Löwen im Stile eines unberechenbaren Alleinherrschers regiert.

„Gott behüte uns vor solchen Leuten“, sagt Karl-Heinz Rummenigge

Nicht nur Traditionalisten dient der schwergewichtige Mann mit Vollbart und Brille, von dem man kaum glauben kann, dass er erst 39 sein soll, als warnendes Beispiel: Dafür, was passieren kann, wenn sich ein Club einem Investor ausliefert. „Gott behüte uns vor solchen Leuten“, sagte Ende des vergangenen Jahres Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge über seinen sprunghaften Kollegen aus dem Morgenland.

In Ismaiks bislang knapp sechsjährige Amtszeit fallen nicht nur Investitionen von mehr als 60 Millionen Euro, sondern auch zwölf Trainer, sechs Geschäftsführer, fünf Sportdirektoren, fünf Präsidenten. Hinzu kommen jede Menge fluchtartige Rücktritte von langjährigen Mitarbeitern in den Vereinsgremien oder der Verwaltung, die sich im eigenen Club plötzlich fremd fühlten. Kein Wunder: Statt Bayerisch wurde Englisch zur offiziellen Amtssprache auf der Geschäftsstelle erklärt.

Die Champions League hatte Ismaik bei seinem Einstieg eher als mittel- denn als langfristiges Ziel ausgerufen. Doch änderten alle Personalrochaden nichts daran, dass die Löwen in den vergangenen Jahren dem Abstieg in die dritte Liga nur ganz knapp entkommen sind. Wohl auch deshalb hat Ismaik die Schlagzahl in dieser Saison noch einmal erhöht und die Unterhaltungsbranche Profifußball mit neuen Possen bereichert.

Der Eklat bei Spiel gegen St. Pauli und andere Kuriositäten

Beim Heimspiel gegen den FC St. Pauli ließ der Löwen-Patron neulich die vor ihm auf der Tribüne sitzenden Gästefunktionäre verbannen, weil die es gewagt hatten, den 2:1-Siegtreffer zu bejubeln. „Wenn auf dem Altar des vielen Geldes Meinungsfreiheit und respektvoller Umgang mit Mitarbeitern, Medien und anderen Clubs auf der Strecke bleiben, dann gute Nacht Fußballdeutschland“, schimpfte St. Paulis Manager Andreas Rettig. Und auch die „Bild“-Zeitung wollte dem Treiben des „1860-Wüstlings“ nicht länger zuschauen: „Wie lange wird dieser Mann im deutschen Fußball noch sein Unwesen treiben?“

Zuvor war es die „Bild“ selbst gewesen, die ebenso wie die „tz“ und der „Münchner Merkur“ vom Bannstrahl des Investors getroffen wurde. Den drei Zeitungen entzog der Club vorübergehend die Dauerakkreditierungen, eine Journalistin wurde gar mit einem Stadionverbot belegt. „Aufgrund der Berichterstattung in den letzten Wochen und Monaten“, so lautete die Erklärung der Löwen, sehe man „keine Basis für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit“.

Wie bei Hape Kerkeling – doch bei den Löwen ist es ernst gemeint

Noch denkwürdiger war die bizarre Pressekonferenz im vergangenen November, auf der Ismaik höchstpersönlich die Entlassung von Trainer Kosta Runjaic und die Degradierung von Geschäftsführer Thomas Eichin zum Sportdirektor verkündete. Wer denn nun neuer Geschäftsführer werde, so lautete eine der ersten Fragen, woraufhin Ismaik auf einen schlanken Mann deutete, der bis dahin unauffällig in der Ecke stand und jetzt plötzlich das Wort ergriff: „Good afternoon, my name is Anthony, I’m 50 years old.“

An Hape Kerkeling fühlte man sich erinnert, der einst beim Grazer AK als angeblicher neuer Trainer namens Albertas Klimawiszys die Journalisten genarrt hatte. Doch diesmal gab es keine versteckte Kamera – die Personalie war ernst gemeint. Anthony Power, so der volle und klangvolle Namen des Überraschungsgastes, übernahm tatsächlich die Geschäfte des Zweitligisten, auch wenn der gelernte Maschinenbauingenieur aus den USA mit dem Fußball bis dahin nichts zu tun gehabt hatte. Eine seiner ersten Amtshandlungen im Auftrag des Investors: die Entlassung von Thomas Eichin und die Verpflichtung von Trainer Vítor Pereira. Immerhin: Unter dem Portugiesen haben die Löwen zuletzt zweimal hintereinander gewonnen.

„Ein historischer Moment“ – der Präsident bedankt sich beim Investor

Trotzdem hat jetzt auch Anthony Power ausgedient. Denn am Montag ist der neue Geschäftsführer in München eingetroffen, dessen mögliche Verpflichtung nicht nur die Münchner Fußballszene monatelang bewegt hatte: „Servus, Ian Ayre“, ist bei der Präsentation des Briten auf Plakaten im Gastraum des alten 60er-Stadions an der Grünwalder Straße zu lesen, in dem Kinder in blau-weißen Trikots Spalier stehen. Präsident Peter Cassalette (62), ein freundlicher Mann, den es im Zuge der vielen Wirren nach oben gespült hat, weiß genau, bei wem er sich zu bedanken hat. Von einem „historischen Moment“, einem „weiteren Meilenstein für den TSV 1860“ spricht er, „möglich gemacht durch Hasan Ismaik“.

Der Investor ist, mit standesgemäßer Verspätung von 20 Minuten, herbeigeeilt und sichtbar stolz auf seinen Transfercoup. Ian Ayre (53) ist ein großer Name im Weltfußball. Er war zuletzt zehn Jahre lang Manager des FC Liverpool – nun freut er sich auf seine neue Aufgabe in den Niederungen der Zweiten Bundesliga: „Meine Aufgabe ist es, die Löwen wieder stark zu machen. Es ist für mich eine große Ehre, für diesen besonderen Club arbeiten zu dürfen“, sagt er auf Deutsch und ist auch ansonsten bestens vorbereitet. Am Revers seines schwarzen Anzugs trägt er das Löwen-Logo, blau-weiß-gestreift ist seine Krawatte, herzhaft beißt er hinterher in die Leberkässemmel, die ihm in die Hand gedrückt wird.

Der neue Manager vergisst nicht, ein paar Spitzen in Richtung FC Bayern loszuwerden

Vor der Eröffnung des Büfetts spricht Ayre über den Aufstieg in die Bundesliga und den Bau eines eigenen Stadions, die beiden großen Ziele der Löwen und ihres Investors. „Überlegtes Handeln auf langfristiger Basis“, so definiert Ayre seine Arbeit – und vergisst nicht, ein paar Spitzen in Richtung FC Bayern loszuwerden: „Ich wusste gar nicht, dass es München zwei Vereine gibt“, sagt er und bringt einen weiteren Satz unter, der prächtig ankommt: „Ginge es nur nach Größe, wäre der Elefant der König des Dschungels und nicht der Löwe.“ Das gefällt Hasan Ismaik, der in der ersten Reihe sitzt, und das gefällt den Gästen weiter hinten, die kräftig applaudieren.

Bestimmt wäre auch Christl Estermann begeistert gewesen, hätte sie Zeit gefunden, ihr Löwenstüberl zu verlassen. Hat sie aber nicht. Erst neulich wurde ihr Pachtvertrag verlängert, Hasan Ismaik habe sich persönlich dafür eingesetzt. Sie wisse gar nicht, was die Leute immer haben, sagt die Wirtin und holt ein Foto von der Wand, das sie mit dem Investor zeigt: „Der Herr Ismaik ist doch ein guter Mensch.“