Vor zwanzig Jahren begann in Sarajevo die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Ihren früheren Charakter hat die Balkan-Metropole unwiderruflich verloren.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Sarajevo - Exakt 11 541 Stühle bleiben leer. Auf einer Länge von mehr als 800 Metern werden auf der Marschall-Tito-Straße in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo am Freitag blutrote Plastikstühle an die Todesopfer der längsten Belagerung des letzten Jahrhunderts erinnern. Vor zwanzig Jahren, am 5. April 1992, begann die fast vier Jahre währende Blockade der Metropole. 50 000 Menschen wurden im jahrelangen Dauerbeschusses verletzt, 11 541 verloren ihr Leben – darunter 643 Kinder.

 

Die „rote Linie“ quer durch die Innenstadt solle am Jahrestag des Beginns der Belagerung an die getöteten „Helden Sarajevos“ erinnern, sagt der Künstler Haris Pasovic, der Schöpfer des Stuhlmonuments für die Toten: „Die meisten waren damals zwischen 20 und 45 Jahre alt. Häufig denke ich darüber nach, wie sie heute leben würden, wenn sie nicht getötet worden wären. Sie wären Arbeiter, Doktoren, Bäcker, Ingenieure oder Fußballspieler. Was würden sie lieben? Und über was würden sie sich aufregen?“ 1425 Tage lang flimmerten die verstörenden TV-Bilder von dem entbehrungsreichen Leben und blutigen Sterben in der eingeschlossenen Stadt Mitte der 90er Jahre weltweit in die Wohnstuben. Der Geschichte und dem Alltag während der Belagerung ist zwei Jahrzehnte später eine Dokumentation im Internet gewidmet, die an den dramatischen Beginn des Überlebenskampfs einer Stadt erinnert.

Ausgerechnet zwei Frauen, die für den gefährdeten Frieden demonstrierten, waren zu den ersten Opfern des sich rasch entfesselnden Krieges um Sarajevo geworden: Der Tod kam ohne Vorwarnung. Serbische Heckenschützen feuerten am Abend des 5. April 1992 von den oberen Etagen des Holiday-Inn-Hotels auf Zehntausende von Demonstranten, die über die damalige Vrbanja-Brücke im Herzen Sarajevos zogen. Im Kugelhagel starben die 25-jährige muslimische Medizinstudentin Suada Dilberovic und die 34-jährige Kroatin Olga Sucic. Die Brücke trägt mittlerweile ihre Namen. Am nächsten Tag riegelten die Truppen der bosnischen Serben alle Zufahrtsstraßen ab und begannen bald, die eingeschlossene Stadt von den umliegenden Hügeln aus unter Dauerbeschuss zu nehmen. Bis zu 3000 Granaten prasselten fortan täglich auf die geschundene Stadt ein. Scharfschützen nahmen die verbliebenen Einwohner unter Beschuss.

Die Zivilbevölkerung wurde über eine Luftbrücke versorgt

Die internationale Gemeinschaft schaute dem Leiden Sarajevos jahrelang tatenlos zu. Nur über eine Luftbrücke wurde die geschundene Zivilbevölkerung mit Hilfsgütern versorgt. Lange hatten die 500 000 Bewohner gehofft, von den 1991 zuerst in Slowenien, dann in Kroatien entfesselten Kriegsschrecken verschont zu bleiben. Doch den nationalistischen Fliehkräften des zerfallenden Jugoslawien konnte sich die Vielvölkerrepublik Bosnien-Herzegowina nicht entziehen.

Vor dem Krieg galt das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen in der damals nur zur Hälfte von muslimischen Bosniaken bevölkerten Stadt als alltäglich, ethnisch gemischte Ehen als keineswegs ungewöhnlich. Die physischen Verwüstungen der Belagerung sind zwanzig Jahre nach deren Beginn zwar weitgehend getilgt, die schmucke Altstadt wieder aufgebaut. Doch das Vielvölkergemisch von „Europas Jerusalem“ wurde im Granathagel der Belagerung unwiederbringlich zerstört. „Sarajevo war ein Symbol Jugoslawiens – und wurde im Krieg zum Symbol für dessen Zerfall“, so der in Sarajevo geborene Schriftsteller Igor Stiks: „Die Belagerung verwüstete die Stadt – und die missglückte Transformation nach dem Krieg die ökonomische Grundlage seiner Bewohner.“

Touristen gehen auf Kriegstouren durch zerstörte Teile der Stadt

Noch einmal machen sich zum Jahrestag die Journalistenveteranen des Bosnienkrieges aus der ganzen Welt nach Sarajevo auf. Mit Kameras behängt besichtigen Touristen auf „Kriegstouren“ die zerstörte Olympia-Bobbahn, kriechen schaudernd durch einen nachgebauten Tunnel oder knipsen eifrig die Minenwarnschilder auf den Höhenzügen der Stadt. In Sarajevo selbst ist von den einstigen Kriegsschrecken kaum mehr etwas zu spüren. Doch die immer vollen Café-Terrassen, die Besucher gerne als Zeichen eines neuen brodelnden Lebensgeistes werten, sind in erster Linie Ausdruck der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit von mehr als 40 Prozent in dem von Korruption und Dauerkrise geplagten Staat. Ob muslimische Bosniaken, bosnische Serben oder Kroaten: viele kommen nur dank der Überweisungen ihrer Angehörigen in Westeuropa über die Runden.

Wie andere Metropolen im zerfallenen Jugoslawien stieg Sarajevo im Krieg zur Hauptstadt auf. Und wie in Belgrad, Zagreb, Pristina oder Skopje wurde der Alltag doch provinzieller als zuvor. Die erhofften Investoren blieben aus. Nur die Zahl der Minarette über den Dächern der schmucken Metropole hat sich erhöht. Die Zahl der einst 130 000 Serben in Sarajevo ist heute auf einige Tausend geschrumpft. Aus ihren Dörfern in Ostbosnien vertriebene Flüchtlinge erhöhten dafür den muslimischen Bevölkerungsanteil – und veränderten den einst sehr weltoffenen Charakter der Olympiastadt. Begünstigt durch die unverändert ethnisch ausgerichtete Politikerkaste des Landes seien den ethnischen Säuberungen in Bosnien nach dem Krieg ethnische Migrationswellen gefolgt, erklärt Stiks die anhaltende „Entmischung“ des zunehmend in völlig getrennten Parallelwelten lebenden Vielvölkerstaats.

Als 15-Jähriger hatte der Autor des Kriegsromans „Die Archive der Nacht“ den Beginn der Belagerung erlebt: Mit seiner Familie konnte Stiks im April 1992 im letzten Moment aus der abgeriegelten Stadt ins kroatische Zagreb fliehen. Seine Eltern kehrten erst nach ihrer Pensionierung vor fünf Jahren nach Sarajevo zurück. Selbst übt sich der Kosmopolit schon seit Jahren als unermüdlicher Wanderer zwischen den postjugoslawischen Welten. Seine Bücher würden trotz desselben Sprachraums in jedem Nachfolgestaat von einem anderen Verlag herausgegeben, berichtet der Literat mit einem Achselzucken: „Es gibt keine grenzüberschreitende Bücherdistribution.“ Sarajevo zeichne sich noch immer durch eine sehr lebendige Kulturszene aus, die sich jedoch „absolut nicht“ im politischen Leben widerspiegle. Für Kulturschaffende, die sich reisend und mit ihrem Werk über Grenzen hinwegsetzen könnten, sei die Staatenwelt der „Jugo-Sphäre“ nach wie vor ein „einzigartiger Kulturraum“, versichert Stiks: „Für alle anderen ist das Leben in ihren Kleinstaaten sehr begrenzt und provinziell geworden.“

// Die Dokumentation zur Belagerung unter http://vimeo.com/23039488 -