Vor 20 Jahren gewann die Türkei beim Eurovision Song Contest, vor zehn Jahren stieg sie aus. Nun verspricht die Opposition eine Rückkehr in den Liederwettbewerb. Laut Umfragen würden sich 95 Prozent der Bevölkerung darüber freuen.

„Ach, war das schön damals“, seufzt eine Spaziergängerin in einem Park in Istanbul. Bis heute werden die meisten Türken nostalgisch, wenn sie an den Sieg der türkischen Sängerin Sertab Erener beim Eurovision Song Contest (ESC) vor 20 Jahren zurückdenken. Es war der erste Sieg der Türkei bei dem Liederwettbewerb, und er löste eine wahre Euphorie im Land aus: Die Türkei stand damals an der Schwelle zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union und feierte den Eurovisionssieg als Bestätigung ihrer europäischen Identität. Heute ist das Land nicht nur weiter vom EU-Beitritt entfernt als seit Jahrzehnten, es nimmt seit zehn Jahren gar nicht mehr am Eurovisionswettbewerb teil. Am Vorabend der Wahlen zu Parlament und Präsidentenamt am Sonntag blicken viele Türken wehmütig nach Liverpool, wo das diesjährige Finale ausgetragen wird, und hoffen, dass sie nächstes Jahr auch wieder mitfiebern können.

 

Staatssender missbilligt Auftritt von Travestiekünstler

„Every Way that I Can“ hieß das Lied von Sertab Erener, mit dem die Türkei 2003 gewann, und es hat sich tief in die türkische Volksseele gegraben. „Natürlich erinnern wir uns daran“, sagt ein junges Elternpaar auf einer Parkbank am Spielplatz. Früher, als die Türkei noch dabei war, hätten sie den Wettbewerb immer gespannt verfolgt, fügt die Mutter hinzu. „Ich würde mir so sehr wünschen, dass meine Kinder das auch können.“ Unvergesslich sei der Eurovisionssieg auch ihr, sagt eine Spaziergängerin namens Gülizar. „Wie sollte man diesen Auftritt vergessen können und diese tolle Show?“

In Bauchtanzkostümen schwenkten Sertab Erener und ihre Tänzerinnen damals auf der Eurovisionsbühne die Hüften. Diese Zeiten sind längst vorbei. Den Rückzug der Türkei aus dem Wettbewerb vor zehn Jahren begründete der Staatssender TRT zunächst mit Kritik am Abstimmungssystem der Europäischen Rundfunkunion EBU, seit dem Sieg des österreichischen Travestiekünstlers Conchita Wurst im Jahr 2014 aber mit moralischer Missbilligung. „Ich kann als öffentlicher Sender nicht live im Abendprogramm jemanden mit ungewissem Geschlecht auftreten lassen, der einen Bart und einen Rock trägt und Mann und Frau zugleich sein will wie dieser österreichische Wettbewerbssieger“, sagte der damalige TRT-Generaldirektor Ibrahim Eren. „Ich habe der EBU gesagt, dass die Europäer damit ihre Werte vergessen haben; erst wenn sich das ändert, nehmen wir wieder teil.“

95 Prozent aller Türken wünschen sich eine Rückkehr zum ESC

Das mochte die EBU der Türkei nicht versprechen, und deshalb entsendet die Türkei seit zehn Jahren keine Künstler mehr zu dem Wettbewerb – sehr zum Kummer der allermeisten Türken: Umfragen zufolge wünschen sich mehr als 95 Prozent aller Türken eine Rückkehr zum Eurovision Song Contest. Nur 4,6 Prozent der türkischen Bevölkerung wollen nach einer Studie der Denkfabrik Global Academy nicht mehr an dem Wettbewerb teilnehmen – und das überwiegend auch nur, weil sie befürchten, bei der Abstimmung gegenüber anderen Ländern benachteiligt zu werden.

Eine Rückkehr zur Eurovision wünschen sich auch alle Spaziergänger, die an einem sonnigen Nachmittag kurz vor den Wahlen im Macka-Park in Istanbul unterwegs sind. „Natürlich sollten wir wieder mitmachen“, sagt ein grauhaariger Mann namens Memdu. „Das findet jeder in der Türkei, gleich, wen man fragt.“ Früher habe er den Wettbewerb immer verfolgt, erzählt er und erinnert an frühere Erfolge: Zwar blieb Ereners Auftritt der einzige Sieg für die Türkei, doch schaffte es die Gruppe Manga im Jahr 2010 mit ihrem Song „We Could Be the Same“ auf den zweiten Platz. „Aber jetzt sind wir ja nicht mehr dabei, und deshalb sehe ich nicht mehr zu“, sagt Memdu. Ihm sei die Musik bei der Eurovision zwar zu seicht, sagt ein anderer Spaziergänger namens Manuel, aber er sei dennoch gegen den Rückzug der Türkei aus dem Wettbewerb. „Auf jeden Fall sollte die Türkei mitmachen,“, sagt er. „Sie gehört schließlich zu Europa.“

Oppositionsbündnis will Türkei zurück in den ESC bringen

Das Oppositionsbündnis, das bei der Wahl am Sonntag die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ablösen will, hat diese Sehnsucht erkannt. Die Türkei nehme schon viel zu lange nicht mehr an dem Song Contest teil, sagt Ali Babacan, früherer Europaminister der Türkei und heute eine führende Kraft im Oppositionsbündnis hinter dem Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. „Wie Sertab Erener in ihrem Song ‚Every Way that I Can‘ sagte: Wir werden alles tun, was wir können, um wieder an dem Eurovision Song Contest teilnehmen zu können“, versprach Babacan in einer Videobotschaft. „Wir werden die Türkei wieder auf die europäische Bühne zurückbringen.“

Die Menschen im Park würden sich freuen – gleich, welche politischen Ansichten sie sonst haben. „Dass die Türkei nicht mehr bei der Eurovision dabei ist, finde ich sehr schade“, sagt die Studentin Ahsen, die ihr Kopftuch eng geknotet trägt. „Ich hatte früher den Traum, einmal live dabei zu sein im Publikum. Es ist traurig, dass nichts daraus geworden ist.“ Ihre Kommilitoninnen stimmen ihr zu: „Ja, wir wollen, dass die Türkei wieder mitmacht.“ Das würde die türkische Gesellschaft zusammenbringen, wirft ihre Freundin Zülel ein. Ahsen stimmt ihr zu: „Ja, wenn wir alle zusammen für etwas fiebern könnten, das wäre toll.“