Am 13. August 1996 wurde der belgische Serienmörder festgenommen. Auch 20 Jahre danach wird das Land von dem Skandal immer wieder eingeholt. Zuletzt nach den Terroranschlägen im März 2016.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Seine Mutter hat die Behörden vor ihm gewarnt. Im Januar 1995 zeigt Janine Lauwens ihren Sohn, einen gewissen Marc Dutroux, wegen Schwarzarbeit an. Sie schreibt einen Brief an das zuständige Amt und weist darauf hin, dass er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Michelle Martin illegal Maurerarbeiten erledige. Dutroux droht Ärger, weil er und seine Partnerin staatliche Invalidenrente in Höhe von umgerechnet 1900 Euro im Monat beziehen und daher nicht arbeiten dürfen, schon gar nicht schwarz.

 

Der Hinweis der Mutter findet durchaus Beachtung in der belgischen Verwaltung. Der Beamte Jacques D. nimmt sich des Falles an. Es dauert lange, wiederholt muss er bei der Justiz nachfragen. Doch im November 1995 ist es so weit, endlich bekommt er Einblick in die Strafakten des damals 39-Jährigen. Dort erfährt er, dass Dutroux Mitte der 80er Jahre zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden ist wegen der Entführung und Vergewaltigung von fünf Mädchen und jungen Frauen. Doch schon nach etwas mehr als der Hälfte der verbüßten Strafe wurde Dutroux vorzeitig entlassen. Der Beamte lädt den Vater von fünf Kindern vor, vernimmt ihn sechs Stunden lang zur Schwarzarbeit und verhängt schließlich eine Geldbuße von umgerechnet 67 000 Euro.

Mädchen am helllichten Tag von der Straße entführt

Das Schreiben mit der Zahlungsaufforderung trifft bei Dutroux ein, da ist er bereits in anderer Sache in Haft: Vor zwanzig Jahren – am 13. August 1996 – wird Dutroux festgenommen unter dem dringenden Verdacht, wenige Tage zuvor die 15-jährige Laetitia entführt zu haben. Das Mädchen hatte sich nach einem Freibadbesuch von ihren Freundinnen verabschiedet und wollte allein nach Hause gehen. Dort kam sie aber nie an.

Dutroux hatte sie zusammen mit einem Komplizen in seinen Renault-Lieferwagen gezerrt und in einen versteckten Kerker gebracht, den er in seinem Haus in der Nähe der südbelgischen Stadt Charleroi eingerichtet hatte. Einem Jungen im Freibad war der Lieferwagen von Dutroux seltsam vorgekommen. Er konnte sich bei der Polizei an ein Fragment des Nummernschildes erinnern. So kamen die Fahnder schließlich auf die Spur eines Serienmörders.

Vier seiner Opfer wurden nur tot geborgen

Mit der Festnahme im August 1996 eskalierte die Affäre Dutroux, die Belgien in eine tiefe Staatskrise stürzen sollte. Erst zwei Tage später wurde Laetitia aus Dutrouxs Kerker befreit – lebend. Ebenso ein weiteres Mädchen, das Dutroux zusammen mit einem Komplizen auf dem Schulweg gekidnappt hatte. Vier andere Mädchen, die er ebenfalls entführt und missbraucht hatte, wurden tot geborgen. Zwei Mädchen hatte er mit Gift ermordet, die anderen beiden waren in ihrem Gefängnis verhungert.

Dutroux hatte die Leichen seiner Opfer mit einem Bagger, wie er im Straßenbau benutzt wird, auf seinem Grundstück verscharrt. Auch die sterblichen Überreste eines Komplizen wurden dort gefunden. Bezeichnend für seine Gefühllosigkeit ist, wie er bei den Vernehmungen die Entführung von Laetitia rechtfertigt: „Das war, um Sabine eine Spielkameradin zu besorgen, um die sie gebeten hatte.“ Sabine hatte er Wochen vorher gekidnappt.

Dutrouxs Mutter hatte vor der seiner vorzeitigen Entlassung gewarnt

Die belgische Polizei und die Staatsanwaltschaft geraten in der Folge unter heftigen Beschuss. Zahlreiche Ermittlungspannen nähren Spekulationen, dass nicht nur Schlamperei dafür verantwortlich war, dass Dutroux erst so spät das Handwerk gelegt wurde. Wurde er womöglich von höherer Stelle gedeckt? Skandalös ist, dass der rechtskräftig verurteilte Entführer und Kinderschänder im April 1992 nach Verbüßung der Hälfte der Strafe wegen Vergewaltigung auf Bewährung entlassen wurde. Seinerzeit hatte die Staatsanwaltschaft dagegen protestiert, auch seine Mutter hatte vor einer Freilassung gewarnt.

Schöpfte wirklich kein Ermittler Verdacht, als in der Nähe von Dutrouxs Wohnort im Laufe des Jahres 1995 mehrere Mädchen zwischen neun und 18 Jahren spurlos verschwanden? Beim Täter muss dieses stümperhafte Vorgehen der Sicherheitsbehörden dazu beigetragen haben, dass er glaubte, weitere Verbrechen begehen zu können und straffrei davon zu kommen.

Beim Prozess gelang dem Angeklagten die Flucht

Wie war das möglich? Experten erklären sich das Versagen mit fehlenden Absprachen zwischen den Sicherheitsbehörden und der Rivalität der verschiedenen Polizeieinheiten und Staatsanwaltschaften untereinander. Selbst in Haft gelang es Dutroux noch, den belgischen Staat vorzuführen. 1998 entwendete er bei einem Gerichtstermin einem Bewacher die Dienstwaffe und konnte flüchten.

Trotz einer Großfandung mit mehr als 400 Beamten konnte er erst Stunden später in einem Wald festgenommen werden. Sowohl der Innenminister als auch der Justizminister stürzten über Dutrouxs Flucht. Seitdem sitzt der mittlerweile 59-jährige wieder in Haft. Ohne Aussicht, jemals wieder auf freien Fuß zu kommen.

Noch heute fürchten Eltern um ihre Kinder

Der Fall hat Langzeitfolgen. Der Name Dutroux entwickelte sich zur Chiffre für das Staats- und Behördenversagen, das wohl mit keinem Land Europas so sehr in Verbindung gebracht wird wie mit Belgien. Die Scham und die Wut der Belgier über den Skandal ist gewaltig. Ende Oktober 1996 beteiligten sich 300 000 Bürger am „Weißen Marsch“, der durch die Brüsseler Innenstadt ging. Gefordert wurden tief greifende Reformen bei Justiz und Polizei. Die Rechtsprechung müsse näher an den Opfern sein.

Die etablierten politischen Parteien Belgiens büßten damals merklich Vertrauen ein. Die Christdemokraten erlitten wenig später eine historische Niederlage und mussten in die Opposition gehen. In den späten 90er Jahren nahmen die liberale Partei und die grüne Partei „Ecolo“ Aufschwung. Die Verunsicherung reicht weit in die Familien hinein: Eltern lassen ihre Kinder seltener allein nach draußen. Selbst Teenager, die in Deutschland schon einmal allein ihrer Wege gehen dürfen, werden in Belgien noch von ihren Eltern begleitet.

Auch zwanzig Jahre später sind Missstände nicht zu übersehen

Seit der Affäre Dutroux wurden die Sicherheitsbehörden einer grundlegenden Reform unterzogen. Während vorher die Kompetenzen der Polizei zersplittert waren und Gendarmerie und örtliche Polizei nebeneinander her existierten, gibt es nun einen integrierten Apparat mit regional zuständigen Beamten sowie der Bundespolizei. Die Justiz wurde dem Zugriff der politischen Parteien entzogen, die Richterschaft gewann erstmals Unabhängigkeit. Heute entscheidet auch nicht mehr das Justizministerium wie seinerzeit bei Dutroux darüber, ob ein Straftäter nach Verbüßung einer Teilstrafe auf Bewährung entlassen wird, sondern ein Richter, dem zwei Beisitzer beigeordnet sind.

Doch trotz aller Reformen: Auch zwanzig Jahre später sind Missstände nicht zu übersehen. So wurden im Frühjahr die Gefängnisse im französischsprachigen Teil Belgiens wochenlang vom Bewachungspersonal bestreikt. Die Vollzugsbeamten wollten nicht nur mehr Geld, sondern prangerten auch die schlechten sanitären Zustände hinter Gittern an. In Deutschland kaum vorstellbar: Der Streik wurde zunehmend zu einer Belastung für den belgischen Regierungschef Charles Michel. Für viele Bürger zeigte die Krise, welche Mühe der belgische Staat hat, die ergangenen Urteile der Justiz auch würdig zu vollstrecken.

Behörden versagten im Fall des Terroristen El Bakraoui,

Auch nach den Anschlägen von islamistischen Terroristen im Frühjahr holte Belgien der Dutroux-Skandal ein. Wieder einmal mussten sich die Sicherheitsbehörden peinliche Pannen vorwerfen lassen. Wieder einmal war ein Gefährder vorzeitig aus der Haft entlassen worden und verübte Verbrechen mit verheerenden Auswirkungen: Es geht um Ibrahim El Bakraoui, der sich Ende März am Brüsseler Flughafen in die Luft sprengte, wobei elf Menschen ums Leben kamen. Der Täter war 2010 zu einer zehnjährigen Haftstrafe wegen Raubes mit Schusswaffengebrauch verurteilt worden und kam 2014 vorzeitig frei. 2015 verstieß er gegen seine Bewährungsauflagen, als er bei zwei Terminen nicht auftauchte.

El Bakraoui war schon auf einer Reise nach Syrien, wo er Kontakt zum IS suchte. Türkische Behörden haben ihn nahe der syrischen Grenze festgenommen und im Flugzeug in die Niederlande abgeschoben. Sie sollen die belgische Botschaft in Ankara darüber informiert haben, dass es sich bei dem Abgeschobenen um einen „fundamentalistischen ausländischen Kämpfer“ handelte. Die Nachricht wurde aber zu spät und auf dem falschen Kanal an die belgischen Behörden übermittelt. Der Täter war längst wieder in Belgien und konnte nicht gefasst werden. Auch das kennen die Belgier schon: Justizminister Koen Geens und Innenminister Jan Jambon räumten danach öffentlich Fehler ein und boten ihre Rücktritte an. Sie sind bis heute im Amt.