Frau Groos, 2005 ist der Neubau für das Kunstmuseum Stuttgart am Schlossplatz eröffnet worden. Nun wird ein Jahr lang gefeiert – und Sie tischen uns eine „Doppelkäseplatte“ als Jubiläumsschau auf. Was hat es damit auf sich?
100 Jahre Städtische Sammlung, 20 Jahre Kunstmuseum am Schlossplatz: Zum Doppeljubiläum werfen wir mit der Ausstellung „Doppelkäseplatte“ den bislang umfassendsten Blick auf die Sammlungsbestände. Wir präsentieren ausschließlich Werke aus unserer eigenen Sammlung. Titel- und impulsgebend für das Ausstellungskonzept ist ein monumentales Lebensmittelbild von Dieter Roth, das aus verschiedenen Käsesorten besteht und seit seiner Erstellung 1968 einen längeren Reifeprozess durchgemacht hat – wie die Sammlung und das Museum eben auch. Sieben Themenräume wird es geben, und um alle in die richtige Feierlaune zu versetzen, ist der Eintritt in die Ausstellung über die gesamte Laufzeit frei.
Dieter Roth ist ein ganz wichtiger Name in der Sammlung. Ein anderer Otto Dix. Steht auch er zum Jubiläum im Scheinwerferlicht?
Durch die Dix-Räume der LBBW in unserer ständigen Sammlungspräsentation steht Otto Dix bei uns immer im Scheinwerferlicht. Der wohl wichtigsten Dauerleihgabe aus der Sammlung der Landesbank Baden-Württemberg, dem „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“, widmen wir eine kleine Sonderpräsentation ab April. Dix porträtierte die extravagante Tanzikone der Weimarer Republik vor genau 100 Jahren. Selbst heute noch wird ihr Image häufig auf Erotik und Rausch reduziert. Anita Berber war zweifellos skandalumwittert, mit der Intervention in den Dix-Räumen wollen wir jedoch mit einigen Vorurteilen um ihre Person aufräumen und insbesondere ihren großen Einfluss als Choreografin hervorheben. Derzeit ist das Werk übrigens in der Kunsthalle Mannheim in der großartigen Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit“ zu sehen.
Seit Adolf Hölzel hat das künstlerische Experiment und die Frage, was überhaupt eine künstlerische Äußerung ist, einen festen Platz in Stuttgart. Eine Linie führt zum Kreis um Joseph Kosuth in dessen Zeit als Professor an der Stuttgarter Kunstakademie. Auch hier ist eine „Ausstellung in der Ausstellung“ geplant – in welcher Form?
Im Juni eröffnen wir eine Präsentation mit sämtlichen Werken von Joseph Kosuth aus unserer Sammlung – das Kunstmuseum Stuttgart verfügt über den größten Bestand seiner Arbeiten in Deutschland. Den Anlass bildet sein 80. Geburtstag. Joseph Kosuth wird zusammen mit mir den rund 200 Quadratmeter großen Raum kuratieren und auch für einen exklusiven Artist Talk nach Stuttgart reisen.
In besonderer Weise haben Marion Ackermann als Direktorin seit 2003 und Sie als Direktorin seit 2010 im Kunstmuseum den Blick auf Künstlerinnen gerichtet. Wird dies auch zum Jubiläum spürbar?
Dass es so wenig Kunst von Frauen in öffentlichen Sammlungen gibt, liegt in historischen und gesellschaftlichen Strukturen begründet. Der Anteil konnte bei uns zuletzt deutlich erhöht werden. Bei der Jubiläumsausstellung „Doppelkäseplatte“ liegt der Fokus vor allem auf den Schenkungen und Ankäufen der vergangenen 15 Jahren. Also seit ich Direktorin am Kunstmuseum Stuttgart bin. Und darunter sind spürbar viele Frauen, etwa Anne Marie Jehle, Andrea Büttner, Haegue Yang und Sonja Yakovleva. Unsere Tiefenerschließung des mittlerweile 16000 Kunstwerke umfassenden Sammlungsbestands hat zudem Werke zutage gefördert hat, die seit Ewigkeiten nicht mehr zu sehen waren – wenn überhaupt. Der jüngste Neuzugang ist eine Installation der US-amerikanischen Künstlerin Kara Walker, die wir in der Jubiläumsausstellung erstmals zeigen. Es war immer mein Wunsch, eine ihrer Scherenschnitt-Arbeiten in Stuttgart, in unserer Sammlung zu haben. Denn Kara Walker hat mehrfach in Interviews betont, dass sie die Kunst von Otto Dix bewundere. Zum Doppeljubiläum 2025 hat sich dieser Wunsch nun tatsächlich erfüllt. Die Freunde des Kunstmuseums Stuttgart haben dieses Werk angekauft und dem Museum als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Diese Arbeit ist eine wunderbare Bereicherung.
Die Einrichtung Museum ist heute schnell eine gefährdete Spezies. Wie fühlen Sie und Ihr Team eigentlich? Als Dinosaurier nach dem großen Einschlag oder eher als neue Art, die sich beständig weiterentwickelt?
2023 wurden in Deutschland 106 Millionen Museumsbesucher:innen gezählt. Gehen wir allein von dieser Zahl aus, sind Museen wohl kaum eine gefährdete Spezies. Museen sind wechselwarm – um in der vorgeschlagenen paläontologischen Bildsprache zu bleiben –, das heißt sie sind abhängig von äußeren Bedingungen, vom Lebensweltbezug. Damit enden dann aber auch schon die Gemeinsamkeiten mit den ausgestorbenen Dinosauriern. Museen müssen sich gesellschaftlichen Zuständen und Veränderungen anpassen können und sich entsprechend weiterentwickeln. Die klassischen Kernaufgaben eines Museums werden sich auf lange Sicht nicht ändern, davon bin ich überzeugt, wohl aber deren Gewichtung.
An was machen Sie das fest?
Der Vermittlung kommt heute etwa ein ganz anderer, nämlich wesentlicherer Stellenwert zu als noch vor 20 Jahren. Unsere Aufgabe besteht mehr denn je darin, Menschen für zeitgenössische Kunst überhaupt erst einmal zu interessieren, also ein Verhältnis zu Kunst zu begründen, das ja oftmals gar nicht mehr vorhanden ist. Das ist heute alles andere als selbstverständlich.
Und Sie erreichen damit welches Publikum?
Es wird immer Nicht-Besucher:innen geben, wir werden niemals alle erreichen. Aber: unser selbstformuliertes Ziel ist es, möglichst Viele und ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Das betrifft dann nicht nur die Vermittlungsprogramme, also auf bestimmte Bedarfe ausgerichtete Führungen und Workshops oder auch digitale Angebote, sondern die Ausstellungen selbst. Die Wahl des Themas und die Zusammenstellung der Werke, die in ihrer kuratorischen Verknüpfung in der Ausstellung bestimmte Fragestellungen transparent und zugänglich machen sollen, spielen dabei eine ebenso große Rolle wie deren Inszenierung, also etwa die Wandgestaltung oder Hängung der Arbeiten, und die sprachliche Abstimmung der Texte.
Ein Jubiläum lässt immer auch zurückblicken. Wie ist das für Sie – gab es die immer erhofften magischen Momente?
Ja, diese magischen Momente gab es erfreulicherweise immer wieder. So etwa bei der Jubiläumsausstellung zum 10-jährigen Bestehen 2015 „I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“. Besucher:innen, die sich mit Musik auf den Ohren tänzelnd und wippend durch eine Ausstellung bewegen, sieht man nicht alle Tage. Die Ausstellung war nicht zuletzt ein Publikumserfolg wegen der Verbindung von Kunst mit Musik. Eine besondere, oft auffallend gelöste Stimmung hatten wir immer dann im Museum, wenn Musik im Spiel war. Ich denke hier an die Ausstellungen von Ragnar Kjartansson und Tino Sehgal, oder an das „Dream House“ von La Monte Young. Und auch im Jubiläumsjahr ist wieder Musik drin: Wer offen ist für musikalische Brückenschläge und in ungeahnte Klangwelten eintauchen will, beglücken wir mit Konzerten von Mats Gustafsson, Katharina Grosse und Stefan Schneider, Marcus Schmickler und Tim Berresheim, Horizontaler Gentransfer und des SWR Vokalensemble. Sowie einem Musikfestival auf dem Kleinen Schlossplatz im Juli.
In Ihrem WissenschaftlerInnen-Team gab und gibt es einen ständigen Generationswechsel. Wie wichtig ist für Sie ein immer neuer „junger“ oder „aktueller“ Blick?
Mit jungen Kurator:innen im Team verschieben sich natürlich immer auch die Perspektiven. Und das ist wichtig und von mir erwünscht, möchte das Museum anschlussfähig an gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse bleiben. Die Ausstellung „Doppelkäseplatte“ gibt hier schon einen Vorgeschmack auf künftige Projekte: Alle Kurator:innen des Kunstmuseums haben Konzepte für jeweils einen der Themenräume entwickelt, die in der Fragestellung an unsere Sammlungsbestände persönliche Interessen erkennen lassen.
Wir haben vorher am Beispiel von Joseph Kosuth über die Kunst über Kunst gesprochen. Bei Ihnen im Haus ist das Thema Museum über Museum sehr wichtig geworden, die Frage also, woher kommen wir? Hat Sie die starke Verflechtung der Sammlung mit dem nationalsozialistischen Deutschland überrascht?
Wie sehr die nationalsozialistische Kulturpolitik den Aufbau eines städtischen Kunstmuseums vorangetrieben hat, überraschte mich dann doch. Meine Vorgänger:innen und ich gingen ja immer davon aus, dass der Nationalsozialismus kunstlose Jahre für Stuttgart bedeutete. Als unser Provenienzforscher Kai Artinger vor einigen Jahren mit dem Thema an mich herangetreten ist, musste ich erst einmal schlucken. Die bisherige Darstellung der Geschichte der Stuttgarter Sammlung korrigieren beziehungsweise neu schreiben – wie werden das unsere Besucher:innen aufnehmen, die Politik und Sponsoren? Die Fülle an Quellen jedoch, die Artinger zutage förderte, machte mir schnell klar: Wir müssen. Ein Museum ist ein Forschungsort und die Forschungsarbeit für es essenziell – so unbequem das Thema auch ist.
Nach der Gemäldesammlung wurde der Grafikbestand untersucht. In welche Richtung werden die weiteren Forschungen gehen?
Als nächstes großes Projekt steht die systematische Untersuchung der Erwerbungen ab 1945 an. Die Zeit des Nationalsozialismus wird jedoch weiterhin für die Forschungen von Kai Artinger zentral bleiben. In den Archiven schlummern noch immer Dokumente, die aufgespürt werden wollen, und die unter Umstände noch einmal neue Erkenntnisse liefern, um Provenienzlücken zu schließen oder die Sammlungsgeschichte zu rekonstruieren. Das ist Detektivarbeit. Zuletzt wurde etwa ein 127-seitiges Bestandsverzeichnis der Städtischen Galerie von 1940 wiederentdeckt, das nun ausgewertet wird.
Der frühere Oberbürgermeister Wolfgang Schuster hat den Kunstmuseums-Neubau am Schlossplatz gegen viele Widerstände forciert. Wie sehen Sie heute die Rolle Ihres Hauses in der Stadtgesellschaft?
Mittendrin im Stuttgarter Leben – das mag als trivialer PR-Sprech daherkommen, beschreibt die Rolle des Kunstmuseums innerhalb der Stadt jedoch nicht unzutreffend. Allein die geografische Lage, vis-à-vis zum Schlossplatz und direkt an der Königsstraße, hat dazu beigetragen, das Museum als sozialen Treffpunkt zu etablieren, als Ort der Begegnung, wo man gerne auch mal spontan hingeht.
Haben Sie nicht das Wesentliche vergessen? Der Kunstmuseums-Kubus ist zur Marke avanciert, steht für das auch touristisch interessante Stuttgart. Heißt, im Kunstmuseum Stuttgart zu arbeiten, immer auch ein Stück gegen den Glanz der Hülle zu arbeiten?
Unsere äußere Hülle mag zwar glänzen, unsere Ausstellungen wagen jedoch stets den Blick hinter und unter die Oberfläche.