Rund 60 000 Patienten suchen im Laufe des Jahres nachts oder am Wochenende das Marienhospital auf. Die Notfallpraxis gilt als Erfolgsmodell. Dabei gingen ihrer Entstehung vor genau 20 Jahren langwierige Verhandlungen voraus.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Die Nase eines Mannes ziert ein dicker Verband, eine junge Frau zieht einen Infusionsständer hinter sich her, die Nadel steckt im Arm. In der Sitzgruppe neben der Patientenaufnahme sitzt eine ältere Dame und weint leise. Eine Schwester versucht sie zu beruhigen: „Das ist eine schwere Entscheidung, die sie nun treffen müssen. Aber irgendwann müssen sie es tun.“ Andere sitzen gelangweilt daneben und warten. Den meisten sieht man nicht an, was ihnen fehlt.

 

In der Notfallpraxis des Marienhospitals werden eigentlich alle medizinischen Diagnosen gestellt – vom Bänderriss bis zum Blinddarmdurchbruch, oder es ist nur ein Schnupfen. „Man benötigt viel Gespür, um die Patienten richtig weiterzuleiten“, sagt der diensthabende Arzt Sören Link an einem Samstagvormittag.

Notfallpraxis mit schwierigem Start

Rund 60 000 Patienten suchen im Laufe des Jahres nachts oder am Wochenende das Marienhospital auf. Die Notfallpraxis gilt als Erfolgsmodell. Dabei gingen ihrer Entstehung vor genau 20 Jahren langwierige Verhandlungen voraus, erzählt der Stuttgarter Arzt Michael Oertel. Er ist Leiter der Notfallpraxis und war einst auch Ideengeber für das Modell. „Jahrelang hat die Stuttgarter Ärzteschaft nach so einem System gesucht“, erzählt er. Aber kein Krankenhaus habe sich vorstellen können, seine Notfallambulanz in der nicht genutzten Zeit an fremde Ärzte abzugeben.

Am 15. Januar 1996 hatte die Praxis zum ersten Mal geöffnet. Das Marienhospital habe damals einen weitsichtigen Verwaltungsdirektor gehabt, der in dieser neuartigen Kooperation einen Vorteil für sein Klinikum sah. „Es ist bis heute eine profitable Situation für beide Seiten“, sagt der Notfallpraxis-Leiter Oertel.

Niedergelassene Fachärzte profitieren

Während der Öffnungszeiten der Notfallpraxis der Stuttgarter Ärzteschaft benötigt das Krankenhaus diese Räume nicht, sie standen leer. Die niedergelassenen Fachärzte wiederum profitieren von allen Möglichkeiten, die ein großes Krankenhaus bietet wie Röntgengeräte, Labor und natürlich die Fachabteilungen im Haus.

Bevor es die Praxis gab, mussten Patienten am Wochenende den diensthabenden Hausarzt irgendwo in Stuttgart aufsuchen. Wenn der nicht weiterhelfen konnte, mussten sie eventuell einen Facharzt aufsuchen oder ohnehin ins Krankenhaus. „Das war alles recht schwierig“, sagt Oertel, der nicht nur Vorsitzender des Vereins Notfallpraxis Stuttgart ist, sondern auch eine eigene Hausarztpraxis im Westen hat.

Weniger Ärzte benötigt

Für das Krankenhaus selbst wiederum sei ein weiterer großer Vorteil, dass seine eigenen Bereitschaftsdienste seitdem entlastet sind. Sie benötigen selbst weniger Ärzte, und wenn ein Patient aus der Notfallpraxis in die eigene interdisziplinäre Notaufname des Marienhospitals (INA) überwiesen wird, steht bereits die erste Diagnose. „Wir hatten schon Patienten, die mit einem Herzinfarkt zu Fuß zu uns gekommen sind“, erzählt Oertel. Die können dann direkt einen Flur weiter in der INA aufgenommen werden.

Von Anfang war es im Sinne der Gründer, nicht nur ein allgemeinärztliches-internistisches Angebot im Repertoire zu haben, sondern auch ein chirurgisch-orthopädisches. In der zentralen Anlaufstelle kümmern sich nun Allgemeinmediziner, Internisten, HNO-Ärzte, ein Chirurg sowie ein psychiatrischer Rufdienst um die Gesundheit der Bürger.

Konstante steigende Patientenzahlen

„Anfangs dachten viele, die Ärzte arbeiteten alle im Marienhospital“, erzählt Oertel. Nach 20 Jahren habe die Praxis sich aber so etabliert, dass eigentlich jeder inzwischen davon wisse. Das zeigen auch die konstant steigenden Patientenzahlen. Die Zahl der Kranken und Verletzten – oder auch einige, die es meinen zu sein – welche die Notfallpraxis aufsuchen, steigt stetig. Ein kleines Problem sei, dass einige den Notdienst missbrauchten. „Abends oder am Wochenende hat man natürlich mehr Zeit für Arztbesuche als während der Woche“, so Oertel.

Weil das Modell so erfolgreich ist, haben es andere Städte längst übernommen. In Baden-Württemberg ist es seit der Notfalldienst-Reform vor einigen Jahren für jeden Landkreis ohnehin Pflicht, einen Krankenhaus-Dienst für niedergelassene Fachärzte anzubieten. Das spart natürlich auch Kosten. Vorhandene Ressourcen werden gemeinsam genutzt.

Die Stuttgarter Ärzteschaft verfügt über einen Pool von 1200 Ärzten und 40 Arzthelferinnen, so dass jeder höchstens drei- bis viermal im Jahr Dienst schieben muss. Sören Link macht sogar zweimal im Monat Dienst. Das hat zum einen finanzielle Anreize, aber auch weil ihm die Arbeit gefällt. Sie sei abwechslungsreich und „ärztlich anspruchsvoll“, sagt er. „Däumchen drehen tut niemand“, ergänzt Oertel. Aufregende Momente gibt es auch. Ein bis zwei Mal im Monat muss die Polizei kommen und sich speziell um betrunkene, aggressive oder psychotische Patienten kümmern.