Die Stuttgarter Ordnungspartnerschaft gegen häusliche Gewalt (Stop) wird im November 20 Jahre alt. Heute arbeiten Ämter, Beratungsstellen, Polizei und Justiz reibungslos zusammen. Der Anfang aber war geprägt von Vorurteilen.

Stuttgart - Seit 2001 arbeiten in Stuttgart Stadt, Polizei, Justiz, psychosoziale Beratungsstellen und Kinderschützer in der Initiative Stop zusammen. Anfangs, um die Opfer von häuslicher Gewalt zu schützen. Heute auch, um Tätern eine gewaltfreie Form der Auseinandersetzung beizubringen. Das Ergebnis ist beeindruckend. 

 

Das politische Klima

Jahrelang diskutierte die Republik in den 80er und 90er Jahren, ob Vergewaltigung in der Ehe als Straftat geahndet werden soll. Im Bundestag lehnten etliche Männer dies vehement ab, ein Abgeordneter wagte gar die Unterscheidung zwischen „dem Ehemann, der seine Frau zum sexuellen Verkehr zwingt, und demjenigen, der eine wildfremde Frau vergewaltigt – das kann nicht gleich behandelt werden“. 1997 setzte sich im Bundestag endlich eine deutliche Mehrheit gegen die Kegelbrudermentalität durch. 

Holpriger Start

Auch in Stuttgart, wo auf Initiative der Grünen-Stadträtin Silvia Fischer und ihrer Fraktion eine Anhörung zum Thema „Keine Männergewalt gegen Frauen“ stattfand, waren sich die Beteiligten anfangs nicht grün: Die Frauen waren den Ordnungskräften wegen ihrer feministischen Haltung suspekt, die Polizei haderte mit der vermeintlich weichen Hand der Sozialarbeiter, und die Teilnehmerrunde war groß und kaum zu steuern. „Es war ein Kraftakt“, erinnert sich Monika Burkhardt, bis 2003 Koordinatorin von Stop. Gemeinsam haben sie es dann doch geschafft, OB Wolfgang Schuster hat die Verantwortung für Stop der Gleichstellungsstelle übertragen. „Seit 2003 haben wir ein hervorragendes Zusammenspiel aller Beteiligten“, sagt deren Chefin Ursula Matschke. 

Ohne Hilfe in kritischer Lage

Frau der ersten Stunde war Sylvia Fischer. Die Sozialarbeiterin hat damals umgeschult und ist seit 1990 Kriminalbeamtin. Schlimme Einsätze blieben im Gedächtnis: „Ein Streit eskaliert, zwei Beamte sind im Einsatz, einer kümmert sich um den Mann, der andere um die Frau, die Kinder sitzen verängstigt in der Ecke. Früher mussten wir Frau und Kinder dort zurücklassen, heute können wir den Krisen- und Notfalldienst alarmieren und Beratungsstellen hinzuziehen.“ Voller Genugtuung sagt sie: „Wir Polizeibeamten sind nicht mehr allein.“ 

Neue Perspektiven

Bis in die 90er Jahre hinein hat man Intervention nicht für nötig gehalten: „Häusliche Gewalt wurde bagatellisiert, privatisiert, da sagte man ,Pack schlägt sich, Pack verträgt sich‘ und hat die Betroffenen beschuldigt, sie hätten den Streit provoziert“, erinnert sich Iris Enchelmaier von der Fraueninterventionsstelle Stuttgart. Und statt des Aggressors mussten die Frauen das Feld räumen. Der Verein Frauen helfen Frauen hat deshalb mit Plakaten das Problem thematisiert, der Runde Tisch gegen häusliche Gewalt das Thema aus der Tabuszene geholt. Catharina Wackes von der Gleichstellungsstelle erinnert sich: „Dank des ersten Aktionsplans im Jahr 1999 war es erstmals möglich, Täter in die Verantwortung zu nehmen.“ 

Das große Netzwerk

Heute greifen die Räder ineinander: Die Polizei ruft den Krisen- und Notfalldienst, wenn Kinder betroffen sind von häuslicher Gewalt. Der Täter wird der Wohnung verwiesen, die Polizei meldet dies ans Ordnungsamt und an die Staatsanwaltschaft. Mit Einverständnis des Opfers informiert das Amt für öffentliche Ordnung das Beratungszentrum des Jugendamts, dieses vermittelt die Betroffene an die Fraueninterventionsstelle beziehungsweise das Kinderschutzzentrum. Die Fachberatungsstelle zur Gewaltprävention, die bei der Sozialberatung Stuttgart angesiedelt ist, fängt Täter auf: „Wir vermitteln ihnen die Einsicht, dass sie eine Straftat begangen haben und ihr Verhalten ändern müssen“, sagt Markus Beck, biete eine Paarberatung und ein Fair-Streit-Training an.  

Neue Opfer, mehr Waffen

In etwa 25 Prozent der Fälle geht die Gewalt von Frauen aus und richtete sich gegen Männer. Als sich ein Mann das Leben nahm, weil er die Brutalität seiner Frau nicht mehr ertragen hatte, gab das 2014 den Anstoß, den Gewaltschutz für Männer zu starten. Inzwischen gibt es in Stuttgart auch eine Schutzwohnung für Männer. „Es sind immer mehr Waffen im Spiel, es wird immer mehr mit Tötung gedroht“, beobachtet Sylvia Fischer. Hilfreich sei, dass Fälle von häuslicher Gewalt nun endlich landesweit einheitlich bearbeitet werden müssten. Und: Schon Teenager können lernen, Alarmsignale im Verhalten der Freunde zu erkennen. 

Nachbessern nötig

„Stop ist kein Selbstläufer“, sagt Grünen-Stadträtin Silvia Fischer. Iris Enchelmaier wünscht sich einen früheren Kontakt zu den betroffenen Frauen, den die Reaktionskette jetzt noch verhindert. Die Zeit der Wegweisung des Täters sei meist auf 14 Tage beschränkt, die Zeit knapp, sich neu zu sortieren. Die Kriminalrätin Sylvia Fischer wünscht sich „ein Frauenhaus, das auch 16-jährige Jungs aufnimmt“. Bis dato würden 14- bis 16-jährige Jungen dort nicht aufgenommen und müssten woanders untergebracht werden. „Viele Frauen bleiben deshalb in der Familienwohnung.“

Opfer, Täter und die Folgen

Die Opfer
1077 Polizeieinsätze hat es im Jahr 2020 wegen häuslicher Gewalt in Stuttgart gegeben. Gegenüber dem Vorjahr bedeutet das eine Zunahme von 16 Prozent. Im Zeitraum 2014–2020 ist die Zahl um 122 Prozent gestiegen. Bei 627 Einsätzen waren Kinder von der Gewalt indirekt oder direkt betroffen.

Die Täter
Die meisten Täter und Täterinnen sind zwischen 26 und 62 Jahre alt. In 844 Fällen handelte es sich bei den Aggressoren um Männer, in 233 Fällen um eine Täterin. Die Anzahl der Wegweisungen lag 2020 bei 493, im Jahr zuvor bei 462. Sie steigt nicht so dramatisch wie die Zahl der Polizeieinsätze insgesamt. Vermutet wird, dass die Gesellschaft sensibilisiert ist und die Polizei früher, oft vor einer Eskalation, ruft.

Jubiläum
Am 8. November treffen sich die Beteiligten der Stuttgarter Ordnungspartnerschaft zu einer nicht öffentlichen Veranstaltung. Sie wird gestreamt (ab 13 Uhr) und ist über folgende Kanäle zu verfolgen: www.youtube.com/StuttgartLHS und www.facebook.de/Stadt.Stuttgart. czi