Noch dieser Schwächetod zeigt eine stupende Energie. Und es ist dies das vielleicht Rätselhafteste an Dickens Romanuniversum: die unbändige Lebendigkeit der Figuren, der Guten wie der Bösen – und gerade bei diesen wünscht man sich, wie oft bemerkt wurde, dass der desavouierte und fortgejagte Schurke wenigstens noch ein einziges Mal rasch die Tür aufmachen, den Kopf hereinstrecken und eine ungeheuerliche Bemerkung machen möge. Das Losgelassene, Groteske, Karnevaleske bei Dickens, die raschen Witze, Beleidigungen und Ausrufe seiner Personen, das unbegreiflich Komisch-Dämonische von Charakteren wie Quilp oder Krook, die komische Grausamkeit von Squeers oder Fagin, die leuchtende Konfusion von Mr. Pickwick und Mr. Micawber . . . „Noch die Langweiler in seinen Büchern haben einen helleren Glanz als die witzigen Köpfe anderer Autoren“ (Chesterton). Diese sich verströmende Fülle ist ein Faszinosum, und der Leser denkt mit unwillkürlicher Bewunderung an den Satz von Tante Betsey in „David Copperfield“ beim großen Auftritt Micawbers: „Der Herr sei mit diesem Mann! Der schriebe Briefe dutzendweis, und wenn die Todesstrafe drauf stünde.“
Diese bewundernswerte Leichtigkeit und Fülle muss sich bewähren an der gusseisernen viktorianische Handlungskonstruktion mit ihren gestohlenen Testamenten und verschwundenen Kindern, an der oft höchst rhetorischen Sozialkritik und der für unseren Blick oft das Schamlose streifenden Evokation starker Gefühle. Es gelingt. Dickens Sentimentalität ist unbestreitbar, aber wir neigen immer noch zu sehr dazu, das genuine, mächtige Sentiment seiner Romane zu belächeln, verführt durch die elegante Sottise von Oscar Wilde: „Man müsste ein Herz von Stein haben, um beim Tod von Little Nell“ – im „Alten Raritätenladen“ – „nicht zu lachen.“
Nabokov zählte ihn zu den „Zauberkünstlern“ der Literatur
Doch in dieser Frage des starken Gefühls findet Dickens überraschend in dem großen Scharfrichter der falschen Empfindungen, in Nabokov, einen Kronzeugen. Nabokov, der jeglicher Sentimentalität gegenüber unnachsichtig war, hat ihm an der Cornell University eine erstaunliche Vorlesung gewidmet; er zählt ihn dort allen deutlichen Defekten zum Trotz zu den großen „enchanters“, den Zauberkünstlern, die mit einem winzigen Bild, einem unerwarteten Detail jenen Schauer über das Rückgrat des Lesers laufen lassen, der das Wesen des literarischen Genusses ist („Obwohl wir mit dem Verstand lesen, ist der Sitz der künstlerischen Intelligenz zwischen den Schulterblättern.“)
Die vielleicht schönste Formulierung für diese Qualität der Romane von Dickens, für diesen unbegreiflichen Überschuss, der bleibt, auch wenn man das Uhrwerk der sauberen Konstruktion, das soziale Pathos und die üppige Emotionalität par distance betrachtet, findet sich bei Chesterton, der Folgendes über die unheimlichen, „bösen“ Figuren bei Dickens schreibt: „Die Atmosphäre überstrahlt die Erzählung, welche oft vergleichsweise enttäuschend wirkt. Die geheimnisvolle Stimmung ist sensationell, das aufgelöste Geheimnis ist am Ende zahm. Es ist fast, als hätten diese grässlichen Gestalten etwas nicht nur vor dem Leser, sondern auch vor dem Autor verborgen. Wenn das Buch endet, kennen wir ihr wahres Geheimnis nicht.“