Die Vision vom Sozialunternehmen mit mehr als 4000 Plätzen hatte Pfarrer Friedrich Jakob Heim mit ziemlicher Sicherheit nicht im Entferntesten im Sinn, als er vor 200 Jahren seine „Pflanzschule für das Reich Gottes“ startete. Elf bedürftige Kinder waren es damals, die im August – finanziert über den im Jahr zuvor ins Leben gerufenen „Privatverein zur Erziehung verwahrloster Kinder“ – im sogenannten Rettungshaus eine Heimat fanden. Recht prominent war bereits zu dem Zeitpunkt die Namensgeberin der neu gegründeten Einrichtung: Königin Pauline von Württemberg, die mit ihrem württembergischen Wohltätigkeitsverein die Paulinenpflege ebenfalls von Beginn an finanziell unterstützte.
Gehörlose von Anfang an mit dabei
Fast von Anfang an waren gehörlose Kinder unter den Klienten des Vereins, ist den alten Unterlagen zu entnehmen. Bis heute hat sich die diakonische Einrichtung in vielen Bereichen der Unterstützung von gehörlosen Menschen verpflichtet, etwa im Berufsbildungswerk, der Schule beim Jakobsweg oder auch mit Wohnangeboten und Werkstätten für mehrfachbehinderte erwachsene Menschen. Weiter ausdifferenziert habe sich die Einrichtung auch in der Kinder- und Jugendhilfe, heißt es in der Pressemitteilung zum 200-jährigen Bestehen. Inzwischen hat die Paulinenpflege – von Kitas über Jugendwohngruppen und Schulsozialarbeit bis hin zur Unterstützung in Familien vor Ort – zahlreiche Angebote für junge Menschen.
Neu mit im Blick: Autisten
Neu dazugekommen sind als Personenkreis in den vergangenen beiden Jahrzehnten auch Autisten. Menschen also mit tief greifenden Entwicklungsstörungen im Bereich von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Die meisten Betroffenen haben Probleme mit sozialen Kontakten sowie mit der Kommunikation und Sprache. Insgesamt hat das Winnender Sozialunternehmen – so lautet die Geburtstagsstatistik zum 200. Geburtstag – momentan rund 4000 sogenannte Maßnahmeplätze für ihre Klienten und zusätzliche ambulante Unterstützungsangebote an verschiedenen Standorten im Rems-Murr-Kreis und in Stuttgart.
Teilhabe an allen Aspekten des Lebens
Gemeinsam sei allen Angeboten, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf jeden Alters ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden soll, sagt Vorstand Andreas Maurer. Dabei spiele die Teilhabe an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens eine sehr wichtige Rolle. „Die Klienten brauchen und wollen kein Mitleid, viel mehr bereichern sie die Gesellschaft und machen unser aller Leben bunter mit ihren Besonderheiten“, sagt Maurer.
Inklusives Festival „Pauline bebt!“ im Mai
Entsprechend feiert die Paulinenpflege ihren 200. Geburtstag unter dem Motto „Weil das Leben bunt ist“ und mit verschiedenen über den Sommer verteilten Veranstaltungen. Start ist am 3. Mai mit einem Jubiläumsempfang im Kärcher-Auditorium. Weiter geht es dann unter anderem mitten in Winnenden mit dem inklusiven Festival „Pauline bebt!“ am 6. und 7. Mai und dem großen Jubiläumsjahresfest am 25. Juni in Winnenden-Schelmenholz sowie mit einem Jubiläumsgottesdienst zum Gründungstag vor 200 Jahren am 6. August in der Schlosskirche Winnenden.
„Wichtig ist uns, dass im Jubiläumsjahr wirklich alle in der Paulinenpflege mitfeiern können. Deshalb gibt es große öffentliche Feste und Veranstaltungen genauso wie kleinere interne Begegnungsevents an vielen unserer Standorte“, sagt Andreas Maurer. Zu den Jubiläumsaktivitäten gehört auch eine bunte Jubiläumsausstellung, die mit verschiedenen Erfahrungsthemenfeldern im Herbst dieses Jahres eröffnet werden soll. Und wer sich ausführlich über die 200-jährige Geschichte der Paulinenpflege informieren möchte, kann dies mit dem im Juli erscheinenden Jubiläumsbuch tun. Der Autor, Pfarrer Dietrich Hub, beschreibt die historischen Entwicklungen, umrahmt von vielen Einblicken und Anekdoten.
Blick auch nach vorn
Vorstand Andreas Maurer ist dennoch wichtig, dass nicht nur nach hinten geschaut wird. Die Einrichtung mit 200-jähriger Tradition wolle im Jubiläumsjahr nicht nur in Erinnerungen schwelgen, sondern auch in die Zukunft schauen. „Wir haben in den 200 Jahren viele Erfahrungen gesammelt, die uns kompetent und auch innovativ machen, damit wir uns den Herausforderungen der nächsten Jahre stellen können“, sagt Andreas Maurer. Er sei beeindruckt, wie viele Krisen in zwei Jahrhunderten überwunden werden konnten – zuletzt auch die Corona- und die Energiekrise. „Das macht mich sehr zuversichtlich“, sagt er.
Optimistisch stimmt Andreas Maurer auch das sprachliche Pflanzschulenbild vom Gründer der Einrichtung: „Die ‚Pflanzschule für das Reich Gottes’ passt auch heute noch für unsere Einrichtung. Eine Pflanzschule hat viele verschiedene bunte Pflanzen, die ihr eigenes Leben haben, und wir unterstützen mit Gottes Hilfe. Mit diesem diakonischen Geist, mit großer Offenheit wollen wir auch in die nächsten Jahre gehen.“
Der Einzug in das „Rettungshaus“
Die Kinder, die der Verein einst im Jahr 1822 in seine Obhut nahm, wurden zunächst in sogenannte „ehrbare“ Familien aufgenommen und sollten dort versorgt und erzogen werden wie deren eigene Kinder. Die Familien waren aber offenbar schnell überfordert mit den fremden Kindern, die an keinerlei Ordnung gewöhnt waren. So beschloss man, die „Zöglinge“ unter Leitung eines Hausvaters und seiner Frau im bisherigen Winnender Armenhaus unterzubringen, das Pfarrer Friedrich Jakob Heim umbauen ließ, um es als Kinderheim nutzen zu können.
Im August 1823 zog der Hausvater und Lehrer Gottlieb Schmidt mit elf Kindern in das Haus Ecke Ring- und Paulinenstraße ein, das damals „Rettungshaus“ genannt wurde. Für die Kinder gab es einen eigenen Schulunterricht. Bald kamen gehörlose Kinder dazu, für die ein eigener Unterricht erteilt wurde. Zugleich wurde die Paulinenpflege Teil der „Rettungshausbewegung“, einem Zusammenschluss christlich gesinnter Menschen, um „verwahrlosten Kindern“ den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen.
22 Rettungshäuser in Württemberg
Die Paulinenpflege Winnenden war damals im Königreich Württemberg die zweite Einrichtung dieser Art – nach der 1820 gegründeten Paulinenpflege Stuttgart. Noch im Jahr 1823 stimmte die württembergische Königin der Anfrage von Pfarrer Heim zu, dass der bisherige Privatverein ihren Namen tragen dürfe. Die Paulinenpflege wuchs stetig, ist den Annalen zu entnehmen. Aus dem Garten hinter dem Rettungshaus wurde eine eigene Landwirtschaft. Später wurden die Häuser „Kleines Asyl“ (heute Ringstraße 108) und die Taubstummenanstalt (Paulinenstraße 18) gebaut.
Alle Jubiläums-Veranstaltungen unter: www.200jahre.paulinenpflege.de