Der Reporter hatte höchsten Respekt vor der selbst gesetzte Aufgabe. Für die Serie „24 Stunden Ludwigsburg“ haben wir originelle, mitunter skurrile, liebenswerte, aber wildfremde Menschen spontan angesprochen, auf der Straße, im Bus, auf dem Marktplatz.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Ludwigsburg - Mitten in der Nacht wildfremde Menschen ansprechen – auf dem Marktplatz oder im Eroscenter, am frühen Abend in einer verrauchten Bahnhofskneipe: das kostet Überwindung, auch einen Reporter, der seit fast 25 Jahren im Job ist. Aber das habe ich mir ja selbst eingebrockt.

 

Für knapp zwei Monate ausgeliehen von der Redaktion Waiblingen nach Ludwigsburg – was also schreiben in der fremden Stadt? Okay, ganz fremd ist mir Ludwigsburg nicht. Ich habe am Otto-Hahn-Gymnasium Abi gemacht, das ist aber schon ein Weilchen her. Und ich schwimme seit 1974 beim SV Ludwigsburg. Trotzdem fehlen die Kontakte, um vom Start weg täglich einigermaßen passabele Texte abzuliefern, die sich gut lesen und interessant sind.

Also der kühne Vorschlag: ich schreibe die Serie „24 Stunden Ludwigsburg“, besuche immer eine Stunde lang einen ausgewählten Ort, erzähle, was ich sehe, wen ich treffe, was die Menschen bewegt. Gut, hat der Büroleiter gesagt, „aber du darfst auf keinen Fall krank werden“. Weil kaum ein Kollegen komische Termine übernehmen will, um 23 Uhr zum Beispiel. Na prima. Ich werde mich bemühen, habe ich geantwortet. Es hat geklappt mit dem Gesundbleiben. Zum Glück.

Der Reporter muss sich nur bücken

Was bleibt nach 24 Stunden, 24 Texten und vielen Treffen mit fremden Menschen in Ludwigsburg? Zu aller erst diese Erkenntnis: die Geschichten liegen auf der Straße. Der Reporter muss sich nur ein wenig bücken. Also seine Schreibstube verlassen und hinschauen, fragen, zuhören. Er hatte allerhöchsten Respekt vor der selbst gesetzte Aufgabe – und auch ein klein bisschen Schiss. Wen treffe ich als nächstes? Wird er mir wohl was Interessantes erzählen? Und was, wenn nicht? Verschlafe ich womöglich den Termin um 2 Uhr im Pflegeheim? Bekomme ich die Texte, einen nach dem anderen, flott geschrieben? Denn sobald die Serie mal startet, dann muss sie auch laufen.

Fast überall habe ich originelle, mitunter skurrile, liebenswerte, interessante Menschen getroffen. Männer und Frauen, über die selten bis nie berichtet wird, die aber gerne erzählen, was sie bewegt, wie sie ihre Stadt sehen und die Welt.

Ein Höhepunkt waren die Damen und Herren in der Bahnhofskneipe D-Zügle. Dabei hatte ich gerade vor diesem Termin größere Bedenken. Ein Sportler in einer Raucherkneipe, der sich frech zu den Leuten setzt, die zufällig zwischen 18 und 19 Uhr da sind, und zu fragen beginnt. Kann das gut gehen? Ja, es ging sogar erstaunlich gut. Mit einer 66-jährigen Rentnerin zum Beispiel. Sie hat sich tief in ihre Seele blicken lassen. Daheim, hat sie erzählt, fühle sie sich mitunter einsam. Die erwachsene Tochter: vor Jahren ausgezogen. Der langjährige Freund: gestorben. Das Leben, hat sie gesagt, sei oft schwer. Manchmal steige in ihr ein ungutes Gefühl auf. „Dann denke ich mir: ich hab’ das Glück verloren.“ In solchen Momenten fahre sie gerne nach Ludwigsburg ins D-Zügle und trinke ein paar Schorle rot. Orte wie diese kleine Stammkneipe eignen sich also für kleine Milieustudien.

Ein Küsschen für die Kamera

Die drei Damen „von Bahn sechs“ haben ebenfalls mächtig Eindruck gemacht. Die Frühschwimmerinnen stehen jeden Donnerstag Punkt 6 Uhr an der Kasse des Stadionbads und wollen ganz schnell rein ins Becken – damit ihnen niemand die Bahn sechs streitig macht. Doris Kapffenstein ist eine dieser Damen, 85 Jahre alt und rüstig wie der sprichwörtliche Turnschuh. Sie ginge glatt als 75-Jährige durch.

Bestens in Erinnerung geblieben ist mir auch Nazmiye Sedef. Wir sind uns abends kurz vor 22 Uhr in der Shell-Tankstelle in der Stuttgarter Straße über den Weg gelaufen. Die junge Frau wohnt in Erdmannhausen, arbeitet bei Bosch in Feuerbach, hatte ihren Freund im Schlepptau und erzählte, dass sie eigentlich in der Stadt schnell noch etwas hätten trinken wollen. Keinen Parkplatz gefunden, deshalb der Stopp an der Tanke. Die beiden haben Kaffee bestellt, geplaudert. Dann ein Abschiedsküsschen, Nazmiye Sedef wollte sich auf den Weg machen zur Arbeit. Sie hatte Nachtschicht. Doch dann wiederholten sie und ihr Freund das Küsschen, extra für unseren Fotograf.

Vielleicht demnächst in Waiblingen

Weniger beeindruckend waren die Stunden an jenen Orten, die sich auf den ersten Blick von selbst empfehlen für eine Reportagenserie durch die Stadt. Die Leitstelle zum Beispiel. Nicht etwa, weil die Damen und Herren, die die Einsätze der Rettungskräfte koordinieren, uninteressant wären. Im Gegenteil. Aber der Gast, der für eine Stunde vorbeischaut, erlebt viel Erwartbares: zum Beispiel, dass die Leute an den Telefonen absolute Profis sind.

Ganz anders die Visite im Eroscenter im Tammerfeld. Mit etwas Bauweh – und auf Vorschlag der Kollegen – am späten Abend hingefahren, mit gemischten Gefühlen das Etablissement betreten und dann das: nette Menschen getroffen, die zwar anonym bleiben wollten, aber offen erzählten. Eine der Prostituierten sagte während einer kurzen Arbeitspause, dass ihr Beruf viele Vorteile habe, sie könne arbeiten, „wie ich Lust habe“. Sie hat berichtet, dass manche Männer auch nur zum Reden zu ihr kämen. Wer hätte das vermutet?

24 Stunden, 24 Texte für 24 Tage – es wäre ein Leichtes gewesen, 24 andere Orte auszuwählen. Aber das können wir ja mal wieder machen, in einer anderen Stadt. Vielleicht demnächst in Waiblingen.