24 Stunden Ludwigsburg – in einer 24-teiligen Serie erzählen wir wie die Ludwigsburger und die Gäste der Stadt leben und arbeiten. Zwischen 12 und 13 Uhr kommen viele Berufstätige sowie ein paar Schüler und Rentner zum Essen in den Marstall. Wer dem Trubel entkommen will, findet Ruhe auf der Dachterrasse des Hochhauses.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Ludwigsburg - Vor dem Haupteingang zum Marstall bietet ein Mann den Passanten die Straßenzeitung Trottwar an, wie Sauerbier. Die meisten Leute haben es an diesem Werktag unter der Woche gegen 12 Uhr eilig. Sie laufen schnell vorbei an dem Mann mit der roten Weste. Oder tun die Menschen, die aus dem Einkaufszentrum kommen, nur so? Gehen flugs weiter, damit sie sich nicht mit dem Zeitungsanbieter auseinandersetzten müssen? Wer weiß. Eine Frau erbarmt sich, erwirbt eine Zeitung, plaudert mit dem Verkäufer.

 

Einer der Männer, die eben aus dem Einkaufszentrum kommen, erzählt auf Nachfrage, dass er den Marstall oft nur als Durchgangsstation nutze. So auch an diesem Tag. Er wohne auf der anderen Seite des Betonhochhauses mit den vielen Geschäften in den unteren Geschossen und den Wohntürmen. Er wolle schnell etwas einkaufen gehen, aber nicht im Marstall, sondern beim Marktplatz. Im Marstall kaufe er gerne in dem Lebensmittelgeschäft im Untergeschoss ein, weil dort auch viele Bioprodukte im Angebot seien. Der Vollsortimenter laufe aber nicht übermäßig gut, so jedenfalls die Einschätzung des Mannes. „Egal wann ich komme, richtig voll ist das Geschäft nie“, sagt er und spaziert weiter in Richtung Innenstadt.

Kundin vermisste Karstadt

In den meisten Geschäften im Marstall ist wenig los an diesem Mittag. Nur die Fressmeile im Obergeschoss – das sogenannte Marstall-Diner – ist ordentlich besucht. Die Pizzaverkäuferin sagt, das Geschäft liefe gut. An einem der Tische sitzen drei Mitarbeiter eines Juweliers und Uhrengeschäfts in der Fußgängerzone. „Wir sind fast jeden Mittag hier und wechseln durch“, sagt einer der Herren. Mal wird beim Italiener gegessen, mal gibt es Burger, mal Hühnchen mit Pommes. Mittwochs zum Beispiel falle die Wahl meistens auf den Italiener, „dann kostet die große Pizza nämlich nur 5,50 Euro“. Ein Geheimtipp, bitte: Wo isst man am besten? „Beim Chinesen“, sagt einer der Männer, die alle nicht in Ludwigsburg wohnen, sondern in Lorch, Schwäbisch Gmünd und Stuttgart. Über Mittag heim gehen? Das geht nicht – auch deshalb die tägliche Visite im Marstall.

Am Tisch nebenan sitzt eine Rentnerin, auch sie hat sich eben ein Stückchen Pizza geholt. Normalerweise, sagt die Dame, „komme ich nicht in den Marstall“. Sie sei 80 Jahre alt, 1994 aus Sachsen nach Ludwigsburg gezogen, weil der Sohn hier Arbeit gefunden hatte. Sie wohne in Neckarweihingen, komme oft mit dem Bus in die Stadt, gehe aber kaum einkaufen. „Wenn man alt ist, dann braucht man nicht mehr so viele Dinge.“ Früher sei sie ganz gerne in das Einkaufszentrum gekommen, als es im Marstall noch die Karstadtfiliale gab. Das war vor der millionenschweren Genaralsanierung. „Bei Karstadt gab es nämlich alles zu kaufen“, erklärt sie.

Und wie gefällt ihr die nicht mehr ganz so neue Heimatstadt Ludwigsburg? Nach ein bisschen Bedenkzeit sagt die Seniorin: „Der Anfang war schwer.“ Sie habe das Schwäbische der Ludwigsburger oft nicht verstanden – und die Art der Menschen zu leben auch nicht immer. „Wir sind in der DDR doch ganz anders aufgewachsen.“ Aber die Stadt Ludwigsburg sei schön, und das Umland gefalle ihr auch gut.

Sehen und gesehen werden

Sechs Teenager-Mädchen machen derweil allerlei Mätzchen im Marstall. Kichernd erzählen die 13-, 14-jährigen Gymnasiastinnen, dass sie erst um 14 Uhr wieder zur Schule müssten, dass sie eben gegessen hätten – Burger, was sonst? – und, dass sie sich oft in einem der Bekleidungsgeschäfte die Zeit vertrieben. Aber nicht zum Einkaufen, sagt eins der Mädchen und grinst breit. „Wir machen eine Challenge.“ Ach so, was muss man darunter verstehen? Ganz einfach: Die Schülerinnen wählen ein Motto, zum Beispiel „sportlich“, und ziehen sich in dem Geschäft entsprechende Klamotten an.

Vorhin seien noch ein paar Jungs aus ihrer Klasse dabei gewesen, „aber denen waren wir wohl zu peinlich“, sagt eine der Freundinnen. Bevor sie zurück in Richtung Schule laufen, wollen sich die sechs Kichertanten noch auf der großen Innentreppe beim Haupteingang niederlassen. Dort heißt das Motto dann: sehen und gesehen werden. Wer gegen Mittag durch die Einkaufspassagen schlendert, sieht viele gähnend leere Läden. Im Schuhgeschäft: kein Kunde. Im Sportgeschäft: mehr Mitarbeiter als Einkäufer. Nur das Diner wird voller und voller. Gegen 12.30 Uhr sind etwa die Hälfte aller Tische belegt.

Der junge Mann, der in einem Geschäft im Erdgeschoss Sportlernahrung in allen möglichen Varianten verkauft, erzählt, dass zu ihm kaum ein Kunde vor 12 Uhr komme. Alle Geschäfte im Marstall müssten aber um 9.30 Uhr öffnen. Mit dem Teilzeitjob finanziere er sich sein Sportstudium an einer Fernuni, sagt der Verkäufer, der in Freiberg wohnt und später gerne als Personaltrainer arbeiten würde.

Toller Blick von der Dachterrasse

Im oberen Geschoss des Einkaufszentrums sitzen zwei kleine Kinder auf einem winzigen Karussell – passend zum Marstall auf Pferdchen. Ein Stockwerk tiefer warten andere Pferde noch auf Kundschaft. Die sogenannten Hoppe-Reiter können Eltern für ihre Kinder ausleihen, zehn Minute reiten kosten zwei Euro. Mit den Hoppe-Reitern aus Kunststoff darf der Nachwuchs durch den Marstall galoppieren.

Leise Musik dudelt aus den Lautsprechern: „I want to know what love is“ von der Band Foreigner. Auf einem großen Bildschirm werden Sportnachrichten gezeigt, eine Mitarbeiterin will Abos für einen Pay-TV-Sender verkaufen. Auf der Treppe am Haupteingang sitzen jetzt gut ein Dutzend Männer, Frauen und Jugendliche – sie schwätzen, spielen mit ihren Smartphones, lesen, beobachten die Passanten im Marstall oder schauen durch die gläserne Fassade hinaus in die Fußgängerzone.

Wer dem Treiben im Einkaufszentrum entkommen will, der sollte ein paar Treppen hinauf steigen – und steht nach kaum einer Minute auf der Dachterrasse des Hochhauses. Hier gibt es einen Kindergarten, einen städtischen Spielplatz, und man hat eine tolle Aussicht in Richtung Barockschloss und Favoritepark. Ein Mitarbeiter des Marstalls, der sich um die Haustechnik der Ladengeschäfte kümmert, macht gegen 13 Uhr eine kurze Mittagspause, raucht eine Zigarette, lässt seinen Blick schweifen.

Von der Dachterrasse aus gelangen die Menschen, die im Marstall leben, in ihre Wohnungen. Eine Frau, Mitte 70, die eben ihren Briefkasten leert, erzählt, dass sie nirgendwo anders wohnen will als in diesem Hochhaus. Im Marstall sei es nämlich möglich mit dem Aufzug zum Einkaufen zu fahren. Und man sei ganz schnell zu Fuß im Kino, auf dem Wochenmarkt oder wo auch immer in der Ludwigsburger Innenstadt.