Der baden-württembergische Landtagsdirektor Hubert Wicker verbringt nach der Wende fünf Jahre im Innenministerium von Sachsen. „Die Jahre in Sachsen waren die interessantesten meiner beruflichen Laufbahn“, sagt der 67-Jährige.
Tübingen - Als Beamter des Bundeslandes Sachsen verzichtete Hubert Wicker auf eine Rückkehrgarantie. „Ich wollte nicht bei jedem Ärger in Dresden darüber nachdenken, nach Baden-Württemberg zurückzukehren“, sagt der Direkter des Landtags in Stuttgart über eine Zeit, die mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegt. Damals war der Schwabe gleich zweimal in Dresden, um dazu beizutragen, das neu entstandene Bundesland Sachsen zu organisieren. Das erste Mal 1990 für drei Monate, zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung somit noch zu Zeiten des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik. Mit einem blauen Ausweis hätten ihm in früheren DDR-Zeiten fast alle Türen offengestanden. Das wurde ihm von einem Fahrer des Innenministeriums durchaus mit Hochachtung erklärt. „Ein orangener DDR-Dienstausweis machte offenbar weniger Eindruck“, weiß er noch.
Im November 1991 wechselte der Beamte aus dem Stuttgarter Innenministerium ein zweites Mal in den Osten. Er übernahm als Staatssekretär die Amtsleitung des sächsischen Innenministeriums. Zwei Männer hatten das Amt nach kurzer Zeit hingeworfen. Wicker blieb in Dresden, immerhin für fünf Jahre. „Am Anfang verbrachte ich viele Wochenenden in Baden-Württemberg, später wurden die Intervalle länger“, sagt der 67-Jährige in seinem Stuttgarter Dienstzimmer.
„Viele gute Leute gehen weg“
Sachsen hat aufgeholt. Was die Verschuldung angeht, liegt das neue Bundesland auf dem Niveau der führenden Länder der alten Bundesrepublik. „Dank der Politik der CDU-Ministerpräsidenten Biedenkopf und Milbradt“, ist CDU-Mann Wicker überzeugt. Auch, weil diese beiden eine kommunale Selbstverwaltung förderten und sich bei finanziellen Zuweisungen an Städte und Gemeinden eher zugeknöpft gezeigt hätten, kann sich der Haushalt sehen lassen. Dazu lobt Wicker die Ansiedlung der Fabriken von VW, BMW und Porsche. „Aber viele gute Leute gehen weg, immer noch“, führt Wicker weiter aus. Die ostdeutsche Wirtschaft ist auf vielen Gebieten nach wie vor nicht konkurrenzfähig und somit auch nicht attraktiv genug für aufstrebende Fachkräfte. „Die Einheit ist noch nicht vollendet“, betont Wicker. „Es dauert noch, bis wir uns in jeder Beziehung als ein Volk fühlen werden.“
Blühende Landschaften – das geflügelte Wort von Kanzler Helmut Kohl spiegelte nach der Wende die Erwartungshaltung dieser Neubürger der Bundesrepublik wider. Als sich das Aufblühen des Ostens weit mehr Zeit ließ als verspochen, „kippte die Hurra-Stimmung gegenüber den Wessis“, beschreibt Wicker die Lage jener Monate. Hinzu kam die Enttäuschung angesichts der Erkenntnis, das windige Autohändler oder Versicherungsvertreter aus dem Westen auf Kosten der Ostbürger prima Geschäfte machten. Eine gewisse Distanz gegenüber allem Neuen spielte auch eine Rolle. „Die Ostdeutschen wollten wenig offenbaren, aus Sorge es könnte gegen sie verwandt werden“, nennt Wicker ein gängiges Verhaltensmerkmal. Nahvollziehbar sei dies angesichts der DDR-Vergangenheit, aber nicht gerade förderlich für Gespräche.
Einsam in der DDR
Beamte aus Baden-Württemberg wurden nicht unbedingt mit privaten Einladungen überschwemmt. „Ja, stimmt schon, an manchen Wochenenden habe ich mit niemandem gesprochen, auf langen Spaziergängen allenfalls ein ,Grüßgott’ gesagt“, merkt Wicker eher leise an. Hotel Eckberg, der Name der ersten Bleibe in der Fremde ist unvergessen. Ein Ex-DDR-Jugendhotel, Standard Fünfzigerjahre. Es folgte die Plattenbauwohnung, „frisch renoviert“. Und somit ganz in Ordnung für den heutigen Tübinger, der seine Stadt auch im Gemeinderat vertritt.
Im Büro wurde viel und rasch entschieden. In der Sache ging es um Genehmigungen, vom Autobahnbau bis zu Industrieansiedelungen. Oder um die Verteilung von Millionen Mark aus Bonn. „Die wurden in einem November angekündigt und mussten bis Dezember investiert worden sein“, sagt Wicker. „Das war gar nicht möglich“. Also wurde das Geld an die Kommunen verteilt. Mit der strengen Auflage, dass es für Investitionen verwendet werden müsse. Und mit dem sanften Zusatz, dass dies eher nicht kontrolliert werden würde. „Solange keine persönliche Bereicherung stattfand, haben wir die Haushaltsordnung großzügig ausgelegt.“
Viele Berufsanfänger wurden angeworben
Während Hubert Wickers Jahre in Dresden wuchs das Innenministerium von 180 auf die Sollstärke von 400 Mitarbeitern. Juristen waren gefragt, naheliegenderweise jene mit Kenntnissen der westdeutschen Rechtsauffassung. Viele Berufsanfänger aus dem Westen wurden angeworben, um die 30 und ledig. Die Ostdeutschen jener Altersgruppe hatten meistens längst Familien gegründet. Auch diese Diskrepanz in der Lebensplanung bringt nicht unbedingt beste Voraussetzungen für gemeinsame Freizeitaktivitäten von Ossis und Wessis. Der Spitzenbeamte aus Baden-Württemberg räumt im Rückblick durchaus ein, dass auch manche der Leihbeamten mit der Situation nicht klar kamen. Wer in den Osten ging, nahm meist zwei Sprossen auf der Karriereleiter auf einmal. Manche waren überfordert. „Nicht alle haben es gepackt.“ Mit seinem damaligen Chef, dem schillernden CDU-Innenminister Heinz Eggert, pflegt Wicker heute noch Kontakte, auch mit einigen der früheren Mitarbeiter. „Einmal im Jahr fahre ich immer noch nach Dresden“, lässt er wissen.
Im Jahr 1997 war die baden-württembergische Landesregierung wieder am Zug und klopfte wegen einer Rückkehr an. Wicker wurde Regierungspräsident in Tübingen. „Die Jahre in Sachsen waren die interessantesten meiner beruflichen Laufbahn“, zieht er Bilanz, „die Zeit als Chef der Staatskanzlei in Stuttgart eingeschlossen“. Auf diesen in Wickers Augen hochinteressanten Posten hatte ihn Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) 2007 berufen, Landtagsdirektor ist Wicker seit 2011.