Mit Brot und Brötchen für Obdachlose fing alles an. Vor 25 Jahren startete in Berlin die deutsche Tafel-Bewegung. Aus Sicht von Kritikern helfen Tafeln zwar vorübergehend, bekämpfen aber die Armut nicht.

Berlin - Ein mannshoher Berg aus Rauke, Tomaten, Fenchel und anderem verdorbenem Gemüse türmt sich vor der Lagerhalle der Berliner Tafel auf. Alles, was die Helfer aussortieren, kommt seit wenigen Wochen in einen Container. „Mit Hilfe von Holzkohle produzieren wir jetzt wertvolle Komposterde für ökologische Landwirtschaft, sogenannte Terra Preta“, erklärt Tafel-Gründerin und Vorstand Sabine Werth.

 

Alles was noch brauchbar ist, kommt hingegen aus Pappkartons in saubere Kisten, um später an Bedürftige verteilt zu werden: Obst, Gemüse, Brot, Brötchen, Joghurt, Wurst - alles das, was Händler nicht mehr verkaufen oder auch andernorts nicht mehr gebraucht wird. Selbst Deo-, Shampoo- und Duschgelflaschen, die Fluggäste in Tegel bei der Sicherheitskontrolle abgeben mussten, werden neu verteilt.

Vor 25 Jahren hat die heute 62-Jährige Werth - inspiriert von einer Idee aus den USA - erstmals Brot und Brötchen bei Bäckern eingesammelt, um sie an Obdachloseneinrichtungen zu verteilen. Was als kleine Hilfsaktion mit wenigen Aktiven und Privatautos begann, hat sich zu einer der größten Hilfsbewegungen in Deutschland entwickelt. Allein in Berlin verteilen rund 2000 Ehrenamtliche monatlich 660 Tonnen Lebensmittel für 125 000 Bedürftige. 26 Hauptamtliche organisieren die Arbeit, und einen Fuhrpark gibt es inzwischen auch.

Mehr als 900 Tafeln bundesweite

„Bundesweit existieren aktuell 937 Tafeln“, sagt Stefanie Bresgott vom Dachverband „Die Tafeln“. Bis zu 1,5 Millionen Menschen nutzen die Angebote demnach regelmäßig - unter ihnen Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senioren, Arbeitslose, Studenten, Flüchtlinge. Doch Grund zum Feiern gibt es aus Sicht von Kritikern wie Stefan Selke nicht. Die Existenz eines solchen Almosensystems in einem reichen Land sei ein politischer Skandal. „Sie sind der Pannendienst einer sozial erschöpften Gesellschaft, die immer mehr ihrer Mitglieder als Überflüssige abspeist“, so der Soziologe.

Immerhin sei die Armut aber für die Politik ein Thema geworden. „Als wir in der Kohl-Ära anfingen, gab es sie offiziell nicht“, erinnert sich Werth. Heute hat sie andere Sorgen: Es werde immer schwieriger, Lebensmittel für die steigende Zahl Bedürftiger einzusammeln. „Die Händler haben gemerkt, dass ihr System falsch ist.“ Auch bei den Produzenten falle dank feiner justierter Maschinen deutlich weniger Überschuss an.

Einrichtungen machen sich gegenseitig Konkurrenz

Außerdem steige die Konkurrenz unter den Tafeln. „Die regionalen Grenzen werden gern mal überschritten. Wir kannibalisieren uns da gegenseitig“, sagt Werth. Sie sucht deshalb mit ihrem Team nach neuen Wegen für die Zukunft - nicht nur mit dem Abfallprojekt, mit dem die spendenfinanzierte Tafel jetzt auch Entsorgungskosten spart. „Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche als Konsumenten-Generation von morgen bewusster mit Lebensmitteln umgehen“, sagt sie mit Blick auf das Projekt Kimba, bei dem ein Doppeldecker-Bus regelmäßig an Schulen unterwegs ist und unter anderem Kochkurse organisiert.

Am sichtbarsten ist die Tafel-Arbeit aber nach wie vor in den Ausgabestellen. In Berlin heißen sie „Laib und Seele“ und unterstützen rund 50 000 Bedürftige - auch im inzwischen eher bürgerlichen Stadtteil Prenzlauer Berg. Jeden Mittwoch stehen Menschen mit Wartenummern vor der Advents-Zachäus-Kirchengemeinde, während gegenüber im Volkspark Jogger ihre Runden drehen.

Viele, die zur Tafel müssen, schämen sich

Unter den Wartenden: eine russlanddeutsche Rentnerin, bei der das Geld knapp ist, weil ihr nur 19 von 45 Berufsjahren angerechnet wurden. Oder eine Lehrerin mit ihrem zweijährigen Sohn, die vor ihrem gewalttätigen Partner in ein Frauenhaus geflüchtet ist. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals zur Tafel gehen würde“, sagt die arbeitslose 37-Jährige. Doch in ihrer jetzigen Krise helfe es ihr. „Ich habe mich so geschämt, dass ich beim ersten Mal geweint habe und kein Wort sagen konnte“, erzählt die Russlanddeutsche. Doch inzwischen habe sie sich damit abgefunden.

Obwohl Tafeln inzwischen nicht mehr wegzudenken sind, fällt der Gang dorthin nicht immer leicht. Das berichtet auch der Wuppertaler Wissenschaftler Holger Schoneville, der untersucht hat, wie Tafel-Nutzer sich fühlen. Das Erleben der Tafeln sei durchaus widersprüchlich: „Sie stellen für die Betroffenen eine lebensnotwendige Hilfe bereit und sind zugleich Teil von sozialen Ausgrenzungsprozessen, die die Würde der Nutzer berührt“, so der Forscher.

Er glaubt nicht, dass die Tafeln grundlegende Probleme lösen: „Sie bekämpfen die Armut nicht“, so Schoneville. „Tafeln verringern eindeutig den Druck, solidarisch gegen Armut zu kämpfen“, kritisiert Selke. Dies könne nur gelingen, wenn selbstbestimmter Konsum wieder in den Mittelpunkt gerückt werde. „Anstatt Menschen mit Sachspenden abzuspeisen, sollte man ihnen zutrauen, mit Geld umgehen zu können“, fordert er.

Ans Aufhören denken die Tafeln deshalb aber nicht. „Solange offensichtlich ist, dass Tafeln „machen“ und dadurch „wirken“, solange es Ungerechtigkeit, Überfluss und Mangel gibt, solange wird sich keine Tafel abschaffen, nur weil irgendjemand behauptet, es dürfe sie in einem reichen Land gar nicht geben“, sagt Bundessprecherin Bresgott.