Das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens liegt 25 Jahre zurück. Damals setzten die Herrschenden auf ein brutales Signal der Abschreckung. China hat Angst vor der Erinnerung an diesen Demokratieversuch. Sie wird mit allen Mitteln bekämpft.
Peking - Zha Jianguo wollte es sich noch einmal überlegen, ein paar Tage nur. „Ich melde mich“, hatte er gesagt. Gemeldet hat er sich nicht mehr. Chen Tianshi meinte, er schreibe eine E-Mail, wie auch Hu Shigen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Li Hai hatte um einen Rückruf gebeten, „nächste Woche Mittwoch“. Am Mittwoch aber ging er nicht mehr ans Telefon. Er konnte nicht. Durfte es nicht, weil er „am Mittwoch“ bereits unter Hausarrest stand, mitten im April, bis Mitte Juni. Wie Dutzende Chinesen, die ihre Erinnerung nicht verbannen, sondern darüber sprechen wollen, an diese blutige Nacht in ihrer Stadt, als sie noch Studenten waren; an die Stunden, als die Panzer kamen und die Lastwagen; an die Menschen, denen Soldaten ihre Maschinenpistolen auf die Köpfe richteten und abdrückten, die Bajonette zückten und zustachen; an die unbeschwerte, angespannte, fröhliche wie bedenkliche Zeit, als so viel möglich schien und am Ende doch alles darniederlag.
Sie waren auf den Tiananmen geströmt, hatten wochenlang dort ausgeharrt, auf diesem Platz des Himmlischen Friedens mitten in Peking. Sie hatten bessere Wohnheime gefordert und höhere Stipendien. Sie hatten von Mitbestimmung gesprochen und von Demokratie. Die Tage des Friedens aber verwandelten sich in Stunden des Krieges. Die Armee metzelte fast 3000 Menschen nieder. Die genauen Zahlen sind bis heute ein Staatsgeheimnis.
25 Jahre ist das her. 25 Jahre verordneten Vergessens dieses „Zwischenfalls“ am 4. Juni 1989. Nur dieses Wort hat überlebt. Es will nicht heraus aus den Mündern der Menschen. Sie schlucken es herunter, setzen ein gequältes Gesicht auf, als hätten sie gerade etwas Widerliches zu sich genommen. Dann und wann spucken sie es aus, mit einem Hüsteln hinterher, „oh, zwinge mich nicht, das auszusprechen“. Das Massaker passt nicht hinein in die Welt des neuen China. Eines Landes, das es ohne diesen 4. Juni 1989 so gar nicht gäbe. Mit einer neuen Wahrheit, erschaffen von der Propaganda der Kommunistischen Partei, die sich in den Wochen, ja in den Jahren vor dem Massaker bereits mit letzter Kraft an ihre Macht geklammert hat und sie noch heute verteidigt und mit einer ausgeklügelten Abmachung: „Werdet reich! Aber haltet den Mund.“
Das Volk hielt sich daran. Es ist ja sichtbar, das dynamische, das aufstrebende, das glänzende China, ein großer Stolz. Vor dem willkürlichen, dem unbarmherzigen, dem Atemluft raubenden China verschließen viele die Augen aus Scham und Hilflosigkeit. Sie nehmen den politischen Würgegriff in Kauf, damit die wirtschaftliche Öffnung gedeihen kann.
Selbst ausländische Journalisten werden kurz vor dem Tag des großen Tabus unter Druck gesetzt. Manche bittet die Polizei zum „Gespräch“, stellt einen Stuhl für sie auf, drum herum Kameras, mehrere Beamte. „Sensible Themen in sensiblen Zeiten“ seien, wie man sicherlich wisse, zu umgehen. Andere werden vom Außenministerium zum „Teetrinken“ geladen. „Nein, nicht wegen . . .“ Sie stocken, sagen nur stotternd „1989“. „Wir wollen Sie einfach nur kennenlernen“, behaupten sie und lächeln verschüchtert. Auf die Straßen schickt die Regierung derweil Hunderte von Polizisten mit Maschinenpistolen.
Vor allem die Jugend weiß kaum etwas von den Ereignissen, und die, die es wissen, sprechen nicht darüber. „Was 1989 geschehen ist?“, fällt plötzlich in einer Diskussion, die sich um etwas ganz anderes drehte. Die junge Frau war damals, als in Peking die Panzer rollten, gerade drei geworden. Weit weg vom Geschehen, in einem Dorf in Zentralchina. Heute ist sie eine erwachsene, eine neugierige und offene Person. Sie kann über amerikanische Kinoregisseure referieren und von Schweizer Bergen schwärmen. Sie weiß, dass 1989 die Berliner Mauer fiel. Was im selben Jahr in ihrem Land passierte, in der Hauptstadt, auf dem größten Platz der Welt, das weiß sie nicht.
Sie fängt an zu suchen. Umgeht die Zensur und findet sie, die Bilder, die Filme. Sie ist erschüttert. „Nein, das kann nicht sein. Nicht bei uns! Eine Erfindung!“ Sie fragt ihre Mutter. „Vergiss es, sofort“, flüstert diese. „Es ist doch 25 Jahre her. Warum soll es noch interessant sein“, fragt eine andere, die damals, mit sieben, die Bilder von Panzern im Fernsehen sah, sie nicht verstand und heute meint: „Es war doch eine Minderheit. Was ist, bitte, verwerflich daran, wenn die Armee auf das eigene Volk schießt? Sie musste doch die Rechte der Mehrheit verteidigen. Rechte derer, die nicht auf die Straßen geströmt waren.“
Es ist eine Interpretation im Sinne der Partei. Zwangsverordnete Maßnahmen – China hat sie nach dem Großen Sprung nach vorn schon gepflegt, auch nach der Kulturrevolution. Die chinesische Sprache hält einen Begriff dafür bereit. „Sha yi jing bai“ – Abschreckung. Eigentlich ist das ein Sprichwort: „Einen töten, Hunderte treffen.“ Es funktioniert.
Auf dem Tiananmen – und in diesen Tagen vor Hitze flimmernd – erinnert heute nichts an die Ereignisse von damals. Polizisten laufen ihre Runden, niemand kommt auf die riesige Fläche, ohne abgetastet zu werden und seine Tasche durch ein Röntgengerät an den Einlässen geschoben zu haben. Die Menschen halten ihre iPads hoch, sie formen das Victory-Zeichen und lassen sich fotografieren. Der Tod ist vergessen auf dem Platz.
Im April 1989 begann die Besetzung des Platzes. Im Juni waren es Hunderttausende. „Was damals passierte, verstand ich schon damals nicht“, erzählt Wang Yuhai in seinem fensterlosen, stickigen Kellerzimmer im Süden Pekings. Ausgerechnet am 2. Juni 1989 war der heute 50-Jährige in die Hauptstadt gekommen. War geflohen aus seinem Dorf, aus der ärmlichen Hütte, um in der Ferne ein paar Yuan zu verdienen: „Mit Flaschensammeln, mit Schuhreparatur, irgendetwas.“ Es war der Tag, als die ersten Soldaten in die Stadt marschierten, als ein Panzer im Westen zwei Radfahrer und einen Fußgänger zermalmte.
Am 5. Juni 1989, dem Tag, als die Massenverhaftungen begannen, packte der Bauer seine Plastiktasche, nichts wie weg aus einer Stadt, von der er keine Vorstellung hatte. Vor sieben Jahren erst ist er zurückgekommen. Zurückgekehrt auf den Platz, zum Flaschensammeln. „Was ist eigentlich damals geschehen“, fragt er in das gleichmäßige Surren seines Ventilators hinein. Es war eine Neuvermessung des Landes, der Partei, des Volkes.
„Jeden Tag können sie kommen und einen holen“
„Das Vertrauen war mit dem ersten Schuss weg. Es kommt nicht mehr zurück. Das Vertrauen in die Gemeinschaft, das Vertrauen in die Partei, selbst innerhalb der Partei gibt es seit dem 4. Juni 1989 kein Vertrauen mehr.“ Zhang Lifan spricht leise. Über die Jahre hinweg hat der Historiker gelernt, welche Kritik zulässig ist in seinem Land und in welchen Dosen. Sein Vater hatte einst eine demokratische Vereinigung gegründet, sie sollte als Gegenentwurf zur KP dienen. Als Rechtskonservativer wurde der Mann, der mit vier Frauen acht Kinder zeugte, im maoistischen China verfolgt, im China des Reformers Deng Xiaoping, der der Demokratiebewegung brutal ein Ende bereitete, schließlich rehabilitiert. Durch den familiären Hintergrund profitiert Zhang von einem unsichtbaren Schutz. Er tat es bereits 1989, als Vermittler zwischen Regierung und Studenten. Da war er 38 Jahre alt und konnte nichts ausrichten.
Der große Mann mit den feinen Händen versucht zu erklären, was nicht zu erklären ist. „Das drastische Vorgehen der Partei geht zum Teil auf die chinesische Kultur zurück, auf das sogenannte ,Xiao-Prinzip‘, sagt er. „Xiao“ ist die Kindespflicht, die Achtung, der Gehorsam vor den Eltern. Vieles in China ist darauf gebaut. „Ältere haben immer recht, Jüngere machen ihre Sache immer schlecht, so die Meinung.“ Demnach habe die Regierung gar nicht erst begriffen, was die Studenten und die Arbeiter wollten und warum sie auf die Forderungen der Jugend hätte eingehen sollen. Zhang erklärte, redete „gegen die Wand“. Er versuchte, die Parteifunktionäre zu überzeugen, einen Schritt auf die Menschen zuzugehen – vergebens. Am 4. Juni hörte er die Schüsse zu Hause.
Am 5. Juni begannen die Befragungen, auch Zhang hatte den Koffer fürs Gefängnis gepackt. Er blieb verschont und schwor sich, die „tiefe Erinnerung“ weiterzutragen. Das Land hatte den Demokratietest gewagt und ihn nicht bestanden. Mit seinem Vorgehen aber hat es ein abschreckendes Beispiel geliefert für all die Staaten, deren kommunistisches Konstrukt nach und nach zerfiel. Die osteuropäischen Länder entschieden sich gegen das Beispiel aus Peking. Eine „Frage der Moral“ für Zhang.
Das Wort „Moral“ benutzt auch Mo Zhixu. Der festgehaltene Schriftsteller – als Student aus Xiamen hatte er 1989 in Peking mitdemonstriert – meldet sich eines Tages doch noch aus seinem Hausarrest. „Jeder, der moralische Werte besitzt, muss an den Tag erinnern“, schreibt er in einer Mail. Die Fragen aber – zu seinem Verbleib, zu seiner Rolle auf dem Platz, ja zu seinem Befinden – beantwortet er knapp oder gar nicht. Schützt er sich selbst? Wird er von Polizisten „geschützt“? Wer ist bei ihm? Wie viele? Mo heißt gar nicht Mo. Er hat diesen Künstlernamen vor Jahren gewählt, um kurze Texte, Kolumnen, kritische Anmerkungen zum Geschehen im Land zu schreiben. Immer wieder kommt er unter Hausarrest, in diesem Jahr ist es bereits das dritte Mal. Es sind stets ein paar Tage, nun sind es einige Wochen, bis zum 10. Juni. Sein Pseudonym hat drei Zeichen: „Keiner der Erlaubten“ bedeuten sie. Er erlaubt sich selbst die Kritik, die er am Staat, an der Partei übt. Wie auch Zha Jianguo und Chen Tianshi, wie Hu Shigen und Li Hai, Autoren, Hauskirchenleiter, Aktivisten: Sie tun es für sich und für die Toten des 4. Juni.