Die Wissenschaftsseite der Stuttgarter Zeitung wird 25 Jahre alt. Sie will verlässlich einordnen und dem Hype entgegenwirken – gerade in Krisen.

Stuttgart - Der Philosoph Karl Popper hatte eine merkwürdige Vorstellung von Wissenschaft. Sie zeichne sich durch ihre Falsifizierbarkeit aus, sagte er, also dadurch, dass jede Theorie im Prinzip widerlegbar sein müsse. Und es würden nur die Theorien als zuverlässig angesehen, die aus allen Versuchen der Kritik und Widerlegung unbeschadet hervorgingen.

 

Das klingt idealistisch und weltfremd, denn geht es in der Wissenschaft nicht vornehmlich um Verifikation? In den Medien ist von Belegen oder gar Beweisen die Rede, Wissenschaftler formulieren zurückhaltender, meinen aber dasselbe: Die vorliegenden Daten würden ihre Theorie stützen. Auch die Lebenserfahrung spricht gegen Popper: Sind Wissenschaftler nicht auch nur Menschen?

Das Geld lässt sie womöglich kalt, aber wollen sie nicht am Ende mit ihrer Theorie recht behalten? Und kann der Drang nach Anerkennung nicht so weit führen, dass man unbequeme Daten ignoriert oder gar passende Daten erfindet? Karl Popper würde antworten, dass es ihm nicht um den einzelnen Wissenschaftler geht, sondern um das System: Wenn man nicht selbst versuche, seine Theorie zu falsifizieren, dann übernähmen das eben die Kollegen. So entstehe letztlich die Objektivität, die wissenschaftliche Erkenntnisse unbestechlich mache.

Die Wissenschaft wird laufend in Frage gestellt

Aber auch ohne auf die menschlichen Schwächen zu verweisen, kann man Poppers Sicht der Wissenschaft für idealisiert halten. Denn in seiner Logik der Falsifikation steckt eine unrealistische Annahme: Er setzt voraus, dass sich Theorien eindeutig falsifizieren lassen. Aber in jedem Experiment stecken so viele Annahmen, dass nicht immer klar ist, welche davon falsifiziert ist, wenn das Ergebnis anders ausfällt als erwartet.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften gilt Poppers Sicht daher schon seit einigen Jahrzehnten als obsolet, in den Naturwissenschaften und der Medizin hält sie sich jedoch hartnäckig. Vielleicht liegt das daran, dass die Physik vermeintlich sauberer misst als die Soziologie: Mit Umfragen, das vermutet fast jeder, lassen sich alle möglichen Theorien veri- oder falsifizieren.

Doch in diesem Punkt sind alle experimentellen Wissenschaften gleich. Neulich überraschten zum Beispiel Physiker mit der Beobachtung, dass eine besondere Sorte von Elementarteilchen, die Neutrinos, schneller fliegen als das Licht. Das widerspricht der Relativitätstheorie Albert Einsteins, doch die Physiker suchen nun nach einem Fehler in den Messungen. Die Relativitätstheorie ist zu gut fundiert, um sie so einfach zu falsifizieren.

In der Krise ist die größte Gefahr, sich zu sicher zu sein

Für Journalisten gibt es daher zwei Möglichkeiten, die Wissenschaft kritisch zu begleiten. Zum einen haben sie ein Auge für menschliche Schwächen der Wissenschaftler, so wie die Kollegen in anderen Ressorts Unternehmer, Politiker, Aktivisten und Verbandsfunktionäre im Blick behalten. Diese Art von Journalismus wird investigativ genannt, und sie erfüllt in der Gesellschaft eine wichtige Aufgabe. Zum anderen arbeiten Journalisten den Wert der wissenschaftlichen Erkenntnisse heraus: Sie heben offene Fragen hervor und prüfen, ob die neuen Messdaten zum Rest des Forschungsfelds passen.

Aus der Erfahrung heraus, dass die wenigsten Experimente wirklich revolutionär sind, bleiben Journalisten also skeptisch. Denn hierin hat Popper recht: In der Wissenschaft gewinnt man nichts, wenn man es sich zu leicht macht und eine Theorie zu früh für wahr hält. Dafür ist die Natur zu kompliziert und trickreich.

Besonders herausfordernd wird das Einordnen, wenn die Wissenschaft keine Ruhe zum Nachdenken hat, wenn ihr nicht die Zeit bleibt, um Theorien klar zu veri- oder falsifizieren. Wenn eine Epidemie droht oder Gifte in die Nahrungskette gelangen, müssen drängende Fragen rasch und auf ungesicherter Faktenlage beantwortet werden. Oft erweisen sich dann Vorsichtsmaßnahmen im Nachhinein als übertrieben, aber manchmal wird man kalt erwischt. In der Krise ist die größte Gefahr, sich zu sicher zu sein.

Chronik - Wie die Entdecken-Seite wurde, was sie ist

Vorbereitung Als die radioaktive Wolke von Tschernobyl nach Deutschland kam, waren verlässliche Informationen gefragt. Der 1992 tödlich verunglückte Wissenschaftsjournalist Georg Kleemann bereitete in Diskussionen mit dem damaligen StZ-Chefredakteur Thomas Löffelholz den Boden für die Einführung einer Wissenschaftsseite vor.

Start Die erste Seite (siehe kleines Bild, Foto: Zweygarth) erschien am 8. November 1986 in der Verantwortung von Wolfgang Borgmann, der das Ressort bis zu seinem Ruhestand 20 Jahre leitete. Der erste Text war ein Porträt des frisch gekürten Nobelpreisträgers Klaus von Klitzing, der noch heute am Stuttgarter Max-Planck-Institut für Festkörperforschung arbeitet.

Ausbau Zur Wissenschaftsseite kamen im Laufe der Jahre weitere hinzu: Medizin, Internet & Computer, Campus und Verbraucher. Aus der 125-teiligen Serie "Feine Teile" des StZ-Redakteurs Hans Jörg Wangner und der Illustratorin Friederike Groß entstanden zwei Bücher, in denen Körperteile liebevoll beschrieben werden. Im Herbst 2006 startete die Leser-Uni, eine Veranstaltungsreihe, bei der Wissenschaftler aus Baden-Württemberg Einblicke in ihr Forschungsgebiet geben. Erster Referent: Klaus von Klitzing.

Neustart Im Sommer 2009 wurden die Themenseiten zur gemischten, jetzt täglichen Seite "Entdecken" zusammengefasst.