Diesen Montag findet die 250. Montagsdemonstration vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof statt. Auch wenn die Protestbewegung in Ritualen zu erstarren droht, bleibt ihre Vergangenheit doch groß.

Stuttgart - Es ist ein bemerkenswertes Jubiläum, das in diesen Tagen in Stuttgart gefeiert wird. In der kommenden Woche findet die 250. Montagsdemonstration statt, ein „einzigartiges Ereignis der Nachkriegsgeschichte Deutschlands“, wie die Veranstalter mit sichtlichem Stolz schreiben. Übertreiben sie? Nein. Niemand, der die Anfänge dieser wöchentlichen Treffen im November 2009 verfolgt hat, konnte mit diesem Protestmarathon rechnen. Damals versammelten sich fünf Menschen vor dem Nordflügel des Hauptbahnhofs, um gegen Stuttgart 21 zu mobilisieren. Dass sie den Grundstein für eine Massenbewegung legten, die Stadt und Land radikal verändern sollte, überstieg in jenen tristen Herbsttagen selbst die kühnsten Träume dieser ersten und einsamen Montagsdemonstranten. Aber so ist es gekommen: Nach Stuttgart 21 werden Großprojekte in der ganzen Republik anders, nämlich bürgernaher auf den Weg gebracht als zuvor.

 

Das wird nun gefeiert werden. Auf der vor dem Hauptbahnhof geplanten Jubiläumskundgebung treten am Montag die Männer der ersten Stunde auf, unter anderem der Theaterregisseur Volker Lösch, der Schauspieler Walter Sittler, der Lokalpolitiker Hannes Rockenbauch und der ehemalige Bahnhofsvorsteher Egon Hopfenzitz. Der Protestadel gibt sich ein Stelldichein, wenn zum 250. Mal das Milliardenvorhaben zum Teufel gejagt, die verschleppte Aufarbeitung des „schwarzen Donnerstags“ gegeißelt und die Einstellung des Wasserwerferprozesses mitten in der Beweisaufnahme verurteilt wird. Die Jubiläumsagenda ist erwartbar, der Stolz auf die Ausdauer des Protests aber auch. Und er ist berechtigt. Nirgendwo sonst, auch nicht bei den Montagsdemos gegen die Hartz-IV-Gesetze, hat man es je bis zur 250. Auflage gebracht: Die Streiter gegen Stuttgart 21 haben einen langen Atem bewiesen, auch wenn sie in ihrer Langatmigkeit schon bessere Jahre erlebt haben als 2014.

Durchhalten mit erhobenem Haupt

Es ist regnerisch kalt gewesen, als die Demonstranten am vergangenen Montag zum 249. Mal routinemäßig durch die Innenstadt zogen. „K 21: Und den Menschen ein Wohlgefallen“ stand auf dem Transparent am Kopf des Zugs, das weihnachtlich gestimmt für die Alternative zu S 21 warb. Dass das Projekt, der tiefergelegte Hauptbahnhof, nichts als Murks sei, erfuhr man auf einem anderen Banner: „Die Bahn muss pünktlich, sicher und bezahlbar bleiben. S 21 verhindert das“ wurde da behauptet, während eine Dame ein Schild mit „Kopf bleibt oben“ in die Höhe hielt – was man, jenseits des Plädoyers für den alten Kopfbahnhof, durchaus auch metaphorisch verstehen konnte: als Durchhalteappell einer stilvoll ergrauten Obenbleiberin, die erhobenen Hauptes weiter in die Schlacht ziehen will – trotz allem.

Denn es ist ja wahr: In der Hochphase des Protests, im Sommer und Herbst 2010, brachte die S-21-Bewegung jeden Montag bis zu zehntausend Menschen auf die Straße, bei Großdemonstrationen bis zu hunderttausend. Jetzt sind es kaum noch mehr als tausend, die an diesem Dezembertag unter erschwerten meteorologischen Bedingungen durch die Stadt marschieren: friedlich und zivil, unter Verzicht von Sprechchören aller Art, befeuert nicht von den legendären Lügenpack-Rufen, sondern von einer Trommelcombo und einer Blaskapelle, die „Those were the days“ anstimmt, ausgerechnet. In Gedanken singt man das Lied nämlich mit, diese sehnsuchtsvolle Hymne in Moll auf jene glorreichen Tage, „als wir kämpften, ohne zu verlieren/ jung waren und unseres Weges sicher“ – und summend erkennt man in den Zeilen auch einen Kommentar zu dem über die Jahre doch etwas müde gewordenen Widerstandshaufen. Nostalgie, Melancholie, Resignation: auch sie prägen mittlerweile den Stuttgarter Protest.

Hat sich der Protest überlebt?

Eingestehen werden sich die Aktivisten diese Stimmungslage nicht, schon gar nicht auf der Jubiläumsdemo, wo man sich die Feierlaune vermutlich nicht verderben lassen will. Aber selbst eingefleischte S-21-Gegner können die Augen nicht vor dem verschließen, was unübersehbar geworden ist: Die einst machtvolle Bürgerbewegung ist zu einem harten Kern zusammengeschmolzen, ihre unbändige Kreativität in vorhersehbaren Ritualen erstarrt. Und was dabei am schlimmsten ist: der Protest befindet sich in einer Phase, in der Stuttgart 21 nicht mehr zu verhindern ist, zumindest nicht politisch. Denn sollte das Projekt je noch scheitern, dann nicht am Widerstand auf der Straße, sondern an den technischen und logistischen Herausforderungen, vor denen es bei der Umsetzung steht.

Wozu also noch Montagsdemos? Wozu noch die Umzüge, die lediglich den Verkehr behindern? Hat sich das ganze, stauverlängernde Protestgedöns nicht überlebt?

Es wäre ein Leichtes, sich über den Protest als solchen lustig zu machen, über die gallischen Dörfer, die sich Woche für Woche auf Wanderschaft begeben und immer dem gleichen Parolenkompass folgen. Ja, diese Verunglimpfung wäre einfach, aber dann doch zu einfach, simpel und billig, um der vormals hochagilen S-21-Bewegung in ihrer Gesamtheit halbwegs gerecht zu werden. Unbestreitbar nämlich ist, dass sich die S-21-Gegner zu ihren Glanzzeiten enorme Verdienste als basisdemokratische Controller von Stuttgart 21 erworben haben. Ausgestattet mit fundiertem Sachwissen, wiesen die kritischen Fachleute vor, während und nach der fernsehöffentlichen Schlichtung 2010 immer wieder auf Widersprüche des angeblich „bestgeplanten Projekts Deutschlands“ hin und deckten Schwachstellen auf, die vom Bauträger Bahn häufig dementiert, später aber oft eingeräumt wurden – ein Spiel um die Wahrheit, das noch nicht abgepfiffen ist und von gut informierten Projektgegnern auch weiter genutzt wird, die Projektbefürworter Mal um Mal vor sich herzutreiben.

Die Tragik der Schwarzseher

Mit welcher Weitsicht sie das tun, zeigen nicht zuletzt die Streitpunkte, die in den vergangenen Wochen und Monaten wieder verstärkt in der Öffentlichkeit erörtert worden sind. Sei’s die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs oder das Gefahrenpotenzial der Gleisneigung, sei’s die Fehlplanung auf den Fildern oder Risiken beim Brand- und Mineralwasserschutz: schon vor Jahren haben die Protestler mit penetranter Vernunft auf all jene Probleme hingewiesen, die jetzt wie Gespenster abermals durch die Stadt gehen und sich den Bahnexperten in den Nacken krallen.

Aber es hilft alles nichts: Die Tunnel für Stuttgart 21 bohren sich unaufhaltsam in den Talkessel, trotz aller Bedenken, die Montag für Montag unverdrossen durch die Stadt getragen werden. Insofern könnte es den Demonstranten so ergehen wie der seherischen Kassandra, deren Unheilsrufe nicht erhört wurden, obwohl sie recht hatte. Darin liegt ihre antike Tragik. Und darin könnte auch die moderne Tragik der Stuttgarter Protestbewegung liegen. Ihre Zukunft ist in höchstem Maße ungewiss, doch ihre Vergangenheit bleibt groß, jenseits aller Nostalgie, Melancholie und Resignation: Zum Wohl von Stadt und Land haben Bürger jahrelang um Transparenz und Aufklärung gerungen. Das ist schon ein kleines Denkmal wert – und eine Protestgala am Montag vor dem Hauptbahnhof.