3 Stuttgarter im Fokus Als Fundis noch Furore machten

Winfried Hermann wird von Joschka Fischer zurechtgewiesen. Foto: Screenshot/StZ

Die Bundesregierung wäre vor 20 Jahren fast am Afghanistan-Krieg zerbrochen. Grüne erwiesen sich als unsichere Kantonisten. Drei Männer aus Stuttgart haben in der krise damals eine Hauptrolle gespielt.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Für Stefanie Hähnlein waren es „die Tage, als dein Papa Geschichte schrieb“. Stefanie Hähnlein war im Herbst 2001 Praktikantin bei den Grünen im Bundestag. Mit dem „Papa“, von dem die Rede ist, war Winfried Hermann gemeint, damals Abgeordneter, mittlerweile Verkehrsminister in Baden-Württemberg. Er wurde zu einer Randnotiz der bundesdeutschen Geschichte, weil er in jenen Tagen Widerstand gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan leistete und damit beinahe die rot-grüne Koalition gekippt hätte. Hähnlein hat auf vier Seiten aufgeschrieben, wie es dazu kam. Adressatin ihres Protokolls ist Hermanns Tochter, seinerzeit ein Baby, jetzt 20 Jahre alt.

 

„Humanitär verantwortungslos“

Zu den historischen Fakten: Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 hatten die USA wenige Tage später zum Gegenschlag ausgeholt. Mit Bombenangriffen wollten sie das Taliban-Regime in Afghanistan zwingen, Osama bin Laden auszuliefern, den Gründer des Terrornetzwerks Al Qaida, das die Attentate eingefädelt hatte. Der SPD-Kanzler Gerhard Schröder sagte den Amerikanern „uneingeschränkte Solidarität“ zu. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sollten zu diesem Zweck deutsche Soldaten in einen Krieg außerhalb Europas ziehen. Schröder wollte die Bundeswehr nach Afghanistan schicken. Dazu war er auf ein Votum des Parlaments angewiesen. In den eigenen Reihen seiner Koalition mit den Grünen regte sich allerdings Widerstand. Einer der Wortführer: Winfried Hermann, Abgeordneter aus Stuttgart.

Mit sieben Gleichgesinnten verfasste Hermann am 11. November 2001 ein Positionspapier, das den Bundeswehreinsatz in Afghanistan als „politisch falsch“ und „humanitär verantwortungslos“ ablehnte. Manches aus dem Manifest hat sich in 20 Jahren Afghanistan-Krieg bestätigt.

Quertreiber Winfried Hermann

Für Bundeskanzler Schröder war das Aufbegehren der grünen Bedenkenträger jedoch ein Fehdehandschuh. Um den Widerstand im Keim zu ersticken, kündigte er an, den Afghanistan-Beschluss mit der Vertrauensfrage zu verknüpfen – mit einem Votum über den Fortbestand der gemeinsamen Regierung. Das war bis dahin seit Bestehen der Bundesrepublik erst dreimal vorgekommen. Damit wurden die Vorbehalte der acht friedenspolitischen Fundamentalisten zum Stolperstein für Rot-Grün. Drei Männer aus Stuttgart spielten damals eine zentrale Rolle: der Quertreiber Hermann sowie auf der anderen Seite Rezzo Schlauch, der seinerzeit Grünen-Fraktionschef war, und der ehemalige Oberbürgermeister Fritz Kuhn, von 2000 bis 2002 Parteivorsitzender der Grünen.

Hermanns Praktikantin erlebte die vermeintlich historischen Tage als „anstrengend, umwerfend, eindrucksvoll, lehrreich, nervenaufreibend, hitzig, schnell“, kurzum: „ein Abenteuer“, so steht es im Protokoll für die Tochter. Welche Abenteuer der „Papa“ zu durchstehen hatte, verrät ein zeitgenössisches Foto. Darauf ist die schärfste Waffe des grünen Establishments im Kampf gegen die pazifistischen Unruhestifter zu sehen: der moralische Zeigefinger des damaligen Außenministers Joschka Fischer. Er droht dem Abweichler Hermann, der wie ein Schulbub vor ihm sitzt – wenn auch mit wenig schuldbewusster Miene.

„Joschka Fischer hat mir schwer die Leviten gelesen“

„Es waren die üblichen Verdächtigen“, so erinnert sich Rezzo Schlauch an die widerspenstige Minderheit in der eigenen Fraktion, die er als Chef zur Räson bringen sollte. Der prominenteste unter den renitenten Acht: Hans-Christian Ströbele, ehedem Anwalt der Roten Armee Fraktion, schon 1985 für die Grünen im Bundestag – und dies bis 2017. Für Schlauch war er der „Spiritus rector“ des Aufstands. Er ließ damals verlauten: Nicht einmal die Taliban könnten einen Sturkopf wie Ströbele von seinem Nein abbringen. Auch an seinem alten Spezi Winfried Hermann sollte Schlauch sich die Zähne ausbeißen: „Der war in solchen Fragen immer sehr hartleibig.“

„Das waren die aufregendsten und schwierigsten Wochen meiner Bundestagszeit“, so entsinnt sich Hermann. Er habe hunderte Mails von der Basis erhalten – „in der Regel mit dem Tenor: ,Macht da bloß nicht mit bei diesem Kriegseinsatz!‘“. Hermann hat auch den moralischen Zeigefinger des Außenministers noch im Gedächtnis: „Joschka Fischer hat mir schwer die Leviten gelesen“, sagt er. Es habe „vielerlei Versuche der Einflussnahme“ gegeben. Er selbst habe aber frühzeitig klargemacht: „Ihr braucht euch keine Mühe zu geben. Für mich ist das eine absolute Gewissensentscheidung. Da werde ich nicht wanken.“ Hermann räumt ein: „Ich persönlich hätte auch ein Scheitern der Regierung in Kauf genommen.“

„Ein bisschen zu einfach gestrickt“

„Das waren für mich keine Querulanten“, versichert Fritz Kuhn. Bei den Versuchen, die Minderheit zu überzeugen, habe er „nie mit Sanktionen argumentiert“. Das führe nicht zum Ziel – „bei Grünen schon gar nicht“. In jenen Tagen habe sich gezeigt: „Für diese Partei braucht man Zeit und Geduld.“ Seine Geduld wurde durch deren hehres Auftreten als Friedenswahrer und Kriegsgegner aber schwer strapaziert. „Keiner konnte für sich die bessere Moral reklamieren“, sagt er im Rückblick. „Die Argumentation, Militäreinsätze seien grundsätzlich unmoralisch, ist ein bisschen zu einfach gestrickt.“

Auch Rezzo Schlauch war genervt vom Gutmenschentum der Pazifisten: „Ich halte diese moralische Aufteilung, die einen sind gewissenhaft, die anderen gewissenlos für absolut illegitim“, schimpfte er 2001 in einem Zeitungsinterview. Er habe in den Diskussionen mit den Abweichlern aber „nicht den Herbert Wehner gegeben mit der Peitsche“. Außenminister Joschka Fischer habe den wichtigeren Part gespielt bei dem Versuch, die Abweichler zu disziplinieren.

„Schmierentheater erster Güte“

Auf wundersame Weise schrumpfte die Zahl der Kriegsgegner am Tag der Abstimmung von acht auf vier – sodass die Regierung letztlich nicht gefährdet war. Hermann war unter den unbeirrten Vier, die bei ihrem Nein geblieben sind. Wie es zu der Arbeitsteilung unter den Widerständlern kam, nennt Schlauch im Rückblick „ein Schmierentheater erster Güte“. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle spekulierte damals: „Wahrscheinlich haben Sie gelost, wer von den acht Leuten mit Ja und wer mit Neinstimmen muss.“ Das Resultat nannte er im Bundestag: „ein getürktes Ergebnis“.

Hermann gab eine Persönliche Erklärung zu Protokoll, in der reklamierte: „Wir stimmen in einer freien Gewissensentscheidung ab. Einige von uns sagen Nein und machen deutlich, dass wir dieses Bundeswehrmandat nicht legitimieren wollen. Einige sagen Ja zur Regierung Schröder und zum Fortbestand der Koalition. Wir wollen gemeinsam diese Reformkoalition.“

„Schwere Verwerfungen zwischen alten Freunden“

Schlauch versichert, er habe Hermann sein unbequemes Abstimmungsverhalten nicht nachgetragen. „In der Politik kann’s schon mal vorkommen, dass die besten Freunde gegeneinander laufen“, sagt er. Hermann wiederum erinnert sich an „schwere Verwerfungen, auch zwischen alten Freunden“. Er verrät: „Das war das einzige Mal, dass ich mir ernsthaft überlegt habe, aus den Grünen auszutreten.“

Hermann hält den Beschluss, Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan zu schicken, heute noch für „eine der größten Fehlentscheidungen der deutschen Politik“. Niemand habe sich damals vorstellen können, dass der Einsatz 20 Jahre dauert. Viele Vorbehalte hätten sich in der Zeit „fatalerweise als richtig erwiesen“. In ihrem Manifest hatten die grünen Kriegsgegner eingeräumt, dass ein „Sturz der Taliban wünschenswert“ wäre, mit dem Krieg werde aber „gerade das Gegenteil“ erreicht: „er schmiedet zusammen und treibt ihnen Sympathisanten zu“.

„Der größte Schock“

Zudem hatten die Pazifisten beklagt, dass die „Kriegsziele sowie die militärische und politische Strategie unklar“ seien und der Einsatz erfolge, „ohne dass es eine realistische politische Konzeption für eine post-Taliban Lösung gäbe“. Hermann erinnert sich: „Der größte Schock war, dass ein Grünen-Parteitag das hinterher auch noch abgesegnet hat.“ Kurze Zeit nach der heiklen Vertrauensfrage im Bundestag mussten die Kriegsgegner zur Kenntnis nehmen, dass sie auch in der Partei keine Mehrheit hinter sich hatten. Der damalige Bundesvorsitzende Kuhn sagt aus heutiger Sicht: „Nicht der Einsatz selbst war falsch, sondern wie er über die Jahre durchgeführt wurde.“

Winfried Hermanns Praktikantin in jenen Tagen hielt aber für seine Tochter fest: „Sein Büro ist stolz auf ihn.“

Weitere Themen