Der eine floh aus der DDR im Kofferraum, der andere ist den ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen komplett auf seinem Pferd entlang geritten. Zwei Zeitzeugen im Südwesten bewegt der Mauerfall auch nach 30 Jahren noch.

Hemmingen/Weingarten - Wie eine zweite Geburt - so beschreibt Karlheinz Breinig den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. „Ich hab mich kaputt geheult vor dem Fernseher“, sagt der 77-Jährige. 14 Jahre zuvor waren er, seine Frau und seine zwei Söhne aus der DDR geflohen - in den Kofferräumen zweier Autos. In Hemmingen bei Ludwigsburg fanden sie ein neues Zuhause.

 

Aufgeregt und ergriffen sei auch Martin Stellberger jedes Mal, wenn er Bilder vom Mauerfall sieht. Die deutsche Teilung habe den 70-Jährigen aus Weingarten bei Ravensburg immer begleitet. Er wurde zwar in Heidelberg geboren, aber seine Mutter stammte aus Halle in Sachsen-Anhalt. Als Kind besuchte er mehrmals seine Großmutter in der DDR. Als Realschullehrer fuhr er mit seinen Schülern regelmäßig nach Ostberlin. Auch nach der Wende ließ ihn das Thema nicht los: „Das war eine ganz heiße Zeit und das hat mich unheimlich geprägt.“ 1990 half er der CDU in Pirna bei Dresden beim Wahlkampf. Mit seiner Schule und seinem Reitverein knüpfte er Verbindungen in den Osten.

Rund 20 Jahre nach dem Mauerfall brach Stellberger mit seinem Pferd zu einer Reise entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf - 1400 Kilometer von Bayern bis an die Ostsee. „Ich wollte mit den Leuten reden“, erklärt Stellberger. Wie haben sie an der Grenze gelebt und wie haben sie die Wende erlebt? „Ich habe keinen gefunden, der die Grenze wiederhaben wollte. Ich habe auch keinen gefunden, der die DDR wiederhaben wollte.“

Grenzritt zu Pferde

Seinen Grenzritt absolvierte er nicht am Stück, sondern verteilt über einen Zeitraum von vier Jahren. Er und sein Pferd kamen dabei spontan bei wechselnden Gastgebern unter. Wie Stellberger erfuhr, hatte während der Teilung in bestimmten Gebieten jeder Landarbeiter im Osten seinen persönlichen Bewacher gehabt und Bauern hatten ihren Erntetermin vier Wochen vorher den Grenztruppen melden müssen. Wenn es dann regnete und sie nicht ernten konnten, hätten sie einen neuen Termin melden müssen - und noch einmal vier Wochen warten müssen.

Im Gegensatz zu Stellberger ist Karlheinz Breinig in der DDR geboren. Er fiel früh in Ungnade: Jeans, keine Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) - ein „negatives Element“ habe es in einer Ausbildungsbeurteilung geheißen. Er baute Antennen, mit denen man Westfernsehen empfangen konnte und ließ sich nicht von der Stasi anwerben. Deren Akte über Breinig umfasse einige Hundert Seiten. „Irgendwie war ich mit dem System nicht mehr einverstanden.“

Am 22. Dezember 1975, dem Hochzeitstag von ihm und seiner Frau, floh Breinig aus der DDR. „Da kriege ich schon wieder Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Seinen beiden Söhnen, damals sieben und elf Jahre alt, erzählte er, sie wollten in den Winterurlaub nach Polen fahren. Dilettantisch nennt er, was folgte: Zwischenzeitlich hätten sie einen Sohn an einen Fluchthelfer verloren, der mit dem Jungen im Kofferraum zum falschen Grenzübergang fuhr. Am Ende kam der Fahrer doch noch an den richtigen Übergang. Da hatte er die Grenze mit dem Jungen im Kofferraum bereits mehrmals überquert.

Er, seine Frau und der jüngere Sohn passierten die Grenze nach Westberlin im Kofferraum eines zweiten Wagens. Die Grenzkontrolle sei ihm ewig vorgekommen. Ein paar Hundert Meter hinter dem Posten dann die Entwarnung von den Helfern vorne im Auto: „Wir haben es geschafft.“

Nichts grundlegend falsch gelaufen

Die DDR erließ einen Haftbefehl, erst wegen „Republikflucht“, später wegen „Landesverräterischer Agententätigkeit“. Seine Eltern in Halle konnte er fortan nicht mehr besuchen und auch umgekehrt war es nicht einfach. Als Breinigs Frau Mitte der achtziger Jahre im Westen todkrank war, durfte seine Mutter zunächst nicht zu Besuch kommen. Breinig habe sogar an den ehemaligen DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker einen Brief geschrieben, erzählt er. Schließlich durfte die Mutter kommen. Da war Breinigs Frau allerdings schon gestorben.

Breinig und Stellberger sind nicht der Meinung, dass nach der Wiedervereinigung etwas grundlegend falsch gelaufen sei. Die positiven Entwicklungen seien in der Überzahl, sagt Grenzreiter Stellberger. Die müsse man stärker herausstellen. Der Staat hätte nach seiner Meinung aber besser erklären müssen, wieso es zur Wendezeit etwa zu Abwicklungen und Arbeitslosigkeit kam. „Ich kann da manche Missstimmung schon verstehen.“ Der ehemalige Lehrer wünscht sich außerdem, dass Schulen den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober feiern. Die Vermittlung des Tages und der Hintergründe komme viel zu kurz.

Kofferraum-Flüchtling Karlheinz Breinig denke, dass sich jüngere Generationen weniger für die deutsche Teilung interessierten, weil sie in Freiheit aufgewachsen sind und den Unterschied nicht kennen. Für Betroffene wie ihn sei die Geschichte hingegen weiter sehr präsent. Er versuche jeden von der Wichtigkeit des Themas zu überzeugen. Manchmal werde es seiner derzeitigen Ehefrau zu viel. Sie schimpfe dann mit ihm: „Du mit deiner DDR.“