Seit 1990 steht ein Stück aus Neukölln im Stadtpark und bleibt weitgehend unbeachtet. Dabei sollte es viel stärker zum Nachdenken anregen, findet Redakteurin Ulrike Otto.

Leonberg - Es ist nur einen guten Meter breit, dafür aber 3,60 Meter hoch. Das ausgewaschene Hellgrau ist teilweise bedeckt mit Graffiti. Was davon noch original 1989/90 ist, kann man kaum erkennen unter den neu hinzugekommenen Schriftzeichen. Nur ein paar Meter nebenan spielen Kinder im Garten des Martha-Johanna-Hauses. Spazier- und Gassigänger laufen entlang, einige Jugendliche flitzen auf dem Fahrrad vorbei. Keiner schenkt der tristen Betonstele Beachtung. Dabei ist es ein Stück der Berliner Mauer, das da im Leonberger Stadtpark steht, direkt am Weg von der Ostertagstraße hinüber zur Berliner Straße.

 

Jetzt kann man einmal drumherum laufen. Noch vor 30 Jahren bildete es eine   Wand, ein schier unüberwindbares Hindernis. Das eine Stadt, ein Land, eine Nation teilte. Das Familie und Freunde voneinander fernhielt. Das Menschen einsperrte und mit ihnen ihre Gefühle und Träume, ihre Wünsche nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch heute vor 30 Jahren bekam diese Mauer Löcher. Zuerst gingen am späten Abend des 9. November 1989 die Schlagbäume an den Grenzübergängen hoch, dann feierten die Menschen die ganze Nacht und tanzten auf der Mauer, als würden sie auf dem Grab des real existierenden Sozialismus tanzen. Und dann rissen sie die Mauer ein.

Auf Sozialismus folgt Kapitalismus

Damals hieß es vor allem: „Weg damit!“ Doch einige findige Kapitalisten ahnten gleich, dass mit dem hässlichen Beton Kasse zu machen ist. Und so wurden ganze Mauersegmente oder auch nur kleine Bruchstücke in alle Welt verkauft. Sie findet sich nun in Brüssel vor dem EU-Parlament und der EU-Kommission, in New York vor dem UN-Hauptquartier.

Doch wie kommt nun das Mauerstück nach Leonberg? Ein Blick ins Archiv der Leonberger Kreiszeitung offenbart zunächst einmal nichts. Eine alte Ausgabe des Amtsblatts vom 5. Juli 1990 dagegen schon. Diese verweist auf die Eröffnung der Ausstellungen „Skulpturen am Friedensmahnmal“, bei der Plastiken von 15 Bildhauern im Stadtpark zu sehen waren, darunter neun aus der DDR. Die Geschichte dieser Ausstellung wiederum beginnt noch etwas früher. Denn die Große Kreisstadt, die ihr Wachstum in den Nachkriegsjahren auch dem Zustrom von Vertriebenen und Flüchtlingen zu verdanken hatte, wollte ein Zeichen für den Frieden setzen. Der Künstler Hans Daniel Sailer wurde beauftragt, ein Mahnmal zu schaffen. An dem sollten auch andere Künstler beteiligt sein, auch aus der DDR.

Ausstellung mit DDR-Künstlern noch vor der Wende geplant

Über gute Kontakte gelang es, Ausreisegenehmigungen für zwei DDR-Künstler zu bekommen, die Ende Oktober 1989 in Leonberg ankamen. Darunter war auch Bernd Wilde, der das Relief des Friedensmahnmals schuf. Doch die Geschichte war schneller als die Bildhauer. Das Mahnmal sollte im Sommer 1990 mit einem Skulpturenpark eröffnet werden mit weiteren Werken von DDR-Künstlern. So machte sich eine Delegation mit einem Tieflader auf den Weg nach Berlin. Als dieser mit den Kunstwerken beladen war, habe der Spediteur vorgeschlagen, doch auch ein Stück der Berliner Mauer mitzunehmen, erinnerte sich Rainer Weller vom Kulturamt der Stadt später. Über gute Kontakte zum „Mauerbeauftragten“ der DDR-Regierung bekam man sogar ein Stück, das zuvor im Partnerbezirk Neukölln (West-Berlin) stand. Wegen dieser Partnerschaft gab es das Teil auch noch kostenlos. Wuppertal habe damals 300 000 DM für zwei ähnliche Stücke gezahlt. Anfang Juli 1990 wurde es dann im Stadtpark aufgestellt.

Kaum Notiz genommen

Von der Ausstellung wurde damals Notiz genommen. Vom Mauerstück eher weniger. Viel mehr trieb die Leonberger 1990 der geplante Bau des Engelbergbasistunnels und des West-Anschlusses um. Sicherlich ein Thema, das die Menschen viel direkter betroffen hat. Doch ein Dasein als sprichwörtliches „Mauer-Blümchen“ hat diese Betonstele trotzdem nicht verdient. Da wäre zum einen das Zeichen der Verbundenheit zu Neukölln, eine Partnerschaft, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht.

Zum anderen sollten wir uns viel öfter in Erinnerung rufen, welche Funktion dieser Betonklotz hatte und was das bedeutet. Auch wenn wir selbst nicht direkt betroffen waren. Ich war gerade in der ersten Klasse, als die Mauer fiel. Später habe ich viel gelesen und mir etliches angesehen. Eine Szene aus einer Dokumentation hat sich mir dabei besonders ins Gedächtnis gebrannt. Wie eine Frau um die 40 am 9. November 1989 vor einem DDR-Grenzsoldaten steht und ihm weinend entgegenschreit: „Ich war noch nie da drüben!“ In diesem einen Satz steckte soviel Verzweiflung, das lässt keinen kalt.

Mehr als eine Mahnung

Das Mauerstück ist mehr als ein erhobener Betonfinger, der uns mahnt, aus der Geschichte zu lernen. Es ist ein Hinweis auf das Leid, das es gab. Es ist aber auch ein Fingerzeig in Richtung Zukunft. Wir alle müssen jeden Tag daran arbeiten, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Neue Serie: „Mauerblick“

Welche Erinnerungen haben Sie an den Mauerfall und die Wiedervereinigung? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Gab es ein Wiedersehen mit Verwandten? Haben Sie Ihr Glück im Westen gesucht oder den Osten mangels Perspektiven verlassen müssen? Oder vielleicht eine deutsch-deutsche  Liebesgeschichte  zu  erzählen? Erzählen Sie uns davon. Davon berichten wir dann in unserer neuen Serie „Mauerblick“. Bitte melden Sie sich per E-Mail an redaktion@leonberger-kreiszeitung.zgs.de.