Berlin - Es ist der 8. November 1989 in Ost-Berlin. Ein junger Student aus dem schwäbischen Gerlingen gehört zu den 15 ersten Nachwuchswissenschaftlern aus der Bundesrepublik, die im Osten forschen dürfen. Markus Rösler, heute Grünen-Abgeordneter, damals junger Akademiker, interviewt den Sekretär der Gesellschaft für Natur und Umwelt, Rolf Caspar, in seinem Ost-Berliner Institut. Dieser sagt ihm: „Ich muss jetzt jeden Tag hier sein. Wenn ich nur einen Tag fehle, ist so viel passiert, dass meine Mitarbeiter es mir gar nicht mehr berichten können.“
Der 27-jährige Student, der an seinem Buch „Naturschutz in der DDR“ arbeitet, hört interessiert zu. Dass einen Tag später die Mauer fallen würde, ahnen weder er noch der ostdeutsche Naturschützer. Nach dem Interview läuft Rösler zum Alexanderplatz, wo die SED-Basis gegen ihre Parteiführung demonstrierte. „Da waren 80-jährige Kommunisten, die gegen die Nazis gekämpft hatten, und kritisierten das Zentralkomitee“, erinnert er sich. Es lag etwas in der Luft.
Wir müssen los, die Mauer ist weg!
Was dann am 9. November 1989 passiert, erzählt Markus Rösler unter der Überschrift „72 Stunden ohne Schlaf“ übrigens am 9. Oktober in der VHS in Korntal. An dem Tag sitzt er in seiner Westberliner Studentenbude und schreibt Tagebuch, um jedes Detail der Umbruchzeit festzuhalten. Da hört er im Radio davon, dass an der Bornholmer Straße der Übergang offen ist. „Wir müssen los, die Mauer ist weg“, ruft er seinen Kommilitonen zu. Mit den Fahrrädern fahren sie zum Brandenburger Tor, es ist ein kalter, aber trockener Tag.
„Es war eine eigenartige Stimmung“, erzählt Rösler, „niemand lief schnell, niemand lief langsam, es war nicht laut.“ Tausende strömen vom Tiergarten zu den Grenzübergängen. In Moabit steht ein Grenzbeamter ratlos zwischen den vielen Menschen. „Er war freundlich, das kannten wir nicht“, sagt Rösler, der Verwandte in der DDR hatte und schon zuvor oft die Grenze passiert hat. Freundlich waren die Grenzer sonst nie, eher angsteinflößend.
Bilder zum Mauerfall finden Sie hier.
An die Emotionen erinnert sich Markus Rösler noch, als wäre es gestern gewesen. „Die Stimmung war bombastisch, ich empfand eine übergroße Freude und war euphorisch“, erinnert er sich. Irgendwann, als er in der Studentenbude den Film wechselt, ruft eine Tante aus Gerlingen an, sie weint am Telefon und sagt: „Ich gebe dir 100 Mark, lade einfach Menschen aus der DDR dafür ein.“ Durch die Trennung der Familie war die ersehnte Vereinigung immer Thema in der Familie. Als Markus Rösler den Kriegsdienst verweigerte, begründete er dies so: „Ich kann und werde nie in meinem Leben auf meine eigenen Verwandten schießen.“
Eine Szene in der magischen Nacht des Mauerfalls bleibt ihm besonders im Gedächtnis eingebrannt. Als die DDR-Grenzer zunächst den Platz vor dem Brandenburger Tor von Osten her wieder absperren, geht eine Frau Anfang 60 auf die jungen Beamten zu. „Ich möchte nur einmal in meinem Leben zum Brandenburger Tor laufen“, sagt sie und fällt dabei sogar auf die Knie. Irgendwann nimmt einer der Grenzschützer sie an die Hand – und schreitet mit ihr zusammen auf den Platz, der seit 1961 für die Bürger tabu war. „Das war berührend, diese Szene vergesse ich nie“, erzählt Markus Rösler heute.
Mit schwäbischem Akzent Checkpoint Charlie
Mit den Fahrrädern fahren die drei jungen Studenten zum Checkpoint Charlie, um wieder in den Westen zu gelangen. Der US-Grenzbeamte macht große Augen, als die drei dort auftauchen. „Ich habe mein breitestes Schwäbisch gesprochen“, sagt Rösler schmunzelnd. So ist offensichtlich, dass er aus dem Westen kommt. Schließlich sehen sie noch, wie der Grenzwall mit Meißeln bearbeitet wird. Der 28-jährige Student steigt auf eine acht Meter hohe Platane und fotografiert, wie ein DDR-Grenzer versucht, mit einem Schweißgerät die Mauer mit einem dünnen Metallstück wieder zu befestigen: „Das war absurd: Am Schnittpunkt zwischen Kapitalismus und Sozialismus, Ost und West, den Einflusssphären der USA und der Sowjetunion, wollte jemand die früher gefürchtete DDR-Staatsmacht mit einem kleinen Schweißgerät sichern.“
An Schlaf ist nicht zu denken. Am nächsten Tag beobachtet Markus Rösler zwei Schlangen: eine vor den Banken, um das Begrüßungsgeld abzuholen. Und eine zweite vor dem Beate-Uhse-Laden. Gedränge auch vor dem Kaufhaus des Westens und den Cafés. Ganz Westberlin stinkt nach dem Zweitaktergemisch der Trabis. Die DDR beschäftigt ihn noch lange: Er arbeitet von 1990 an am Zusammenschluss der Naturschutzverbände mit der BRD mit und entwickelt als Wissenschaftler das Nationalparkprogramm des untergehenden Staates. Und schließlich vollendet er sein Buch über Naturschutz in der DDR, in leicht aktualisierter Form.
Wie ist die Lage 30 Jahre später?
Wie sieht der 57-jährige, dreifache Familienvater, der in Vaihingen-Ensingen lebt, heute die Wiedervereinigung? „In meiner Familie sind die Unterschiede zwischen Land und Stadt größer als zwischen Ost und West“, meint er. Doch es gebe einen Mentalitätsunterschied, die Vereinigung sei zu schnell gegangen. „Ich habe 1989 formuliert: Die hatten 40 Jahre Diktatur - da haben Sie Anrecht auf 40 Jahre Transferleistungen.“ Der Meinung ist der Grünen-Politiker heute noch – und fordert, den „Soli“ weiterhin zu erhalten.