The Manhattan Transfer, Dieter Ilg sowie die Pianisten Wollny, Rantala und Mozdzer haben bei den 30. Jazztagen im Theaterhaus gezeigt, wie viele Facetten der Jazz haben kann – und wie lebendig er ist.

Stuttgart - Glaubt man selbsternannten Hohepriestern der Zunft, scheint der Jazz nicht mehr viel zu dürfen: Keine Entwicklung mehr, das Genre sei ausbuchstabiert, bestens ausgebildete Musiker spielten bloß noch Musik aus dem Museum. Seit Jahren wird auch in Deutschland darüber debattiert, ob Jazz nicht ein Untoter sei, ein Zombie. Und dann kommt da zum Start der 30. Internationalen Theaterhaus-Jazztage ein Gesangsquartett auf die Bühne, das 2017 seinen 45. Geburtstag feiert und Musik spielt, die oft doppelt so alt ist wie das Ensemble selbst. Swing aus den 1930er Jahren etwa, insgesamt ein Repertoire, das sich seit den frühen 1990ern fast nicht verändert hat. Toter als tot, das?

 

The Manhattan Transfer geben auf diese Diskussion keinen Pfifferling. Janis Siegel, Cheryl Bentyne, Alan Paul und der für den 2014 verstorbenen Bandgründer Tim Hauser dazugekommene Trist Curless tun exakt das, worauf es im Jazz ankommt: Sie leben den Moment. Auch am Mittwoch im vollbesetzten Theaterhaus tun sie das mit jener Lust am Entertainment, mit jener Brillanz im Satzgesang und mit jener bemerkenswerten Intuition für wunderbar swingende Musik, für die sie seit 1972 mit vielen Grammys ausgezeichnet worden sind – und für die sie vom großen Publikum geliebt werden. Immer noch. Dass sie dies nach dem Tod Hausers überhaupt noch tun, war erst nach einer längeren Sinnkrise klar, wie Alan Paul am Bühnenrand erzählt: „Tim hätte das so gewollt“, sagt der 67-Jährige mit traurigem Blick, „es war sein Baby.“

Unterstützt werden die vier Sänger vom ausgezeichneten Begleittrio mit dem Pianisten Yaron Gershovsky, dem Bassisten Boris Kozlov und Ross Pederson am Schlagzeug. Zusammen sausen sie durch die Klassiker ihrer Bandgeschichte, „Tuxedo Junction“, „Route 66“, „Boy From New York City“, „Birdland“, „Chanson d’amour“. Sie knallen einem atemlose Close-Harmony-Sequenzen vor den Latz, sie machen sich mit ihren Stimmen die ursprünglich für Bläsersätze komponierten Chorusse zu eigen, sie imitieren Soli von Charlie Parker, Lee Morgan und Miles Davis (überragend: „Tutu“) – und sie tun das so unnachahmlich lässig, dass dabei auch Jon Hendricks und Eddie Jefferson, die Erfinder des Vocalese-Gesangsstils, große Freude hätten.So ähnlich hat man das natürlich auch schon in Stuttgart gehört. Am 20. Juli 1989 in der Liederhalle mit Stan Getz etwa, beim noch vom Theaterhaus veranstalteten Jazzgipfel. Museum? Toter als tot? Zombies? Eine Scheindebatte. Ein Abend mit Manhattan Transfer ist so vorhersehbar wie mitreißend. Und das ist immer noch gut so. (maz)

Auf den Spuren des Meisters

Dieter Ilg schwimmt gegen den Strom am Gründonnerstag, gegen den „Third Stream“, in dem der Sprachschatz der europäischen Klassik und die Ausdrucksweise der amerikanischen Jazzimprovisation zusammenfließen. Bei den Theaterhaus-Jazztagen gibt der Kontrabassist aus Freiburg nichts von seinen Projekten „Otello“, „Parsifal“ und „Beethoven“ zum Besten, sondern kehrt zurück zu einer der produktivsten Quellen des Jazz überhaupt: John Coltrane. Während damals die meisten anderen Jazzer ihre Soli mit ein paar melodischen Veränderungen bestritten, schien der vor 50 Jahren verstorbene Saxofonist vor Kreativität schier zu platzen. Er schichtete dichte Tonfolgen um die Harmonien bekannter Standards wie „My Favorite Things“ oder Eigenkompositionen wie „Naima“.

Mit dieser Ballade, die Coltrane seiner ersten Frau widmete, beginnt der Reigen. Das Jazzquintett startet mit sirrenden, flirrenden Geräuschen, doch als der tiefe warme Basston Ilgs das harmonische Fundament einrichtet, findet die Band vom leisen Lärm zum spannenden Klang des Jazz. Dabei teilt sich Holzbläser Christof Lauer die herausfordernde Aufgabe, Coltranes Part zu spielen, mit dem polnischen Jazzgeiger Adam Baldych: Die heftige Klage des Saxofons zeichnet mit der Melodramatik der virtuos gespielten Violine Coltranes Vielseitigkeit und Gestaltungskraft nach.

Pianist Rainer Böhm fächert fingerfertig die Harmonien auf und beflügelt mit geschmackvollem Spiel die Band, während Patrice Héral seine aufregende Rhythmuskunst in Szene setzt. Als Ruhepol, Puls und Steuermann agiert Ilg aus dem Bühnenhintergrund und übernimmt den Part der Coltrane-Bassisten Garrison und Chambers. Ein starkes Quintett wandelt da auf den Spuren des Meisters, der den Jazz mit Riesenschritten nach vorne gebracht hat, vom Cool Jazz und Hard Bop bis hin zu modalen Spielweisen und unbändig wilden Formen. Ilg und seine Mannen erinnern bei ihrem Auftritt an das legendäre Album „Giant Steps“ von 1959 und führen es lustvoll ins 21. Jahrhundert. Als Ilg 26 Lenze zählte, hatte ihn Dave Liebman nach New York zum Gedächtniskonzert anlässlich des 20. Todestages von Coltrane gebeten; nun, nachdem ein halbes Jahrhundert seit dessen Ableben vergangen ist, hat Ilg in Stuttgart dem immer noch gegenwartsnahen Jazz-Triumphator wieder die Ehre erwiesen. (stai)

Kein Duell, sondern Zusammenspiel

Rücken an Rücken teilen sich der deutsche Jazz-Pianist Michael Wollny und sein polnischer Kollege Leszek Mozdzer einen quergestellten Klavierhocker. Der eine am Flügel, der andere am E-Piano, lassen sie die Hände fliegen auf einer wilden Jagd durch „Africa“, ein Stück des schwedischen Jazzbassisten Lars Danielsson. Bald dreht sich Mozdzer um und greift zum Flügel, Wollny seinerseits zum E-Piano, und schon wechseln sie fliegend die Instrumente, einmal, zweimal, dreimal. Irgendwann stehen sie einander gegenüber, jeder eine Hand auf jeder Tastatur. Kein Duell ist das, sondern eine Lehrstunde in Sachen Zusammenarbeit in einer Welt, in der Spalter und egomanische Schreihälse das Gegenteil predigen.

Das Publikum ist aus dem Häuschen am Donnerstag im gut gefüllten großen Saal des Theaterhauses, immer wieder gibt es Szenenapplaus für Wollny, Mozdzer und den Finnen Iiro Rantala, den dritten im Bunde bei diesem „Piano Summit“ („Klavier-Gipfel“). Es ist erst ihr zweiter gemeinsamer Auftritt nach der Premiere in der Berliner Philharmonie, die der deutsche Jazz-Mäzen Siggi Loch mit seinem Label Act initiiert und mitgeschnitten hat. Nun hat er das Trio noch einmal zusammengerufen als standesgemäßes Geburtstagsgeschenk fürs Theaterhaus, das mit seinem österlichen Festival den Jazz auf seine Art fördert.

Sehr europäisch klingen die drei Wunderpianisten, alle fangen ihre Soloauftritte verträumt an. Rantala, dem immer der Schalk im Nacken sitzt, schmuggelt eine gute Portion Satire in seine Leonard Bernstein-Interpretation; weit hinaus ins Ungewisse wagt sich Wollny, der Stuttgart bluesig grundierte Impressionen widmet und diese zwischen Hindemith und seinen „Hexentanz“ webt; der Romantiker Mozdzer flicht schnörkelig fließende Girlanden der Sehnsucht. Einzeln, zu zweit und zu dritt spielen sie an gegenüberstehenden Flügeln und dem E-Piano ihre Eigenarten aus, immer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten. Rantala und Wollny nähern sich einander zunächst tastend, ehe ihr Spiel beinahe eins wird; Rantala und Mozdzer spielen sich putzige Themen zu, bunte Jazz-Bällchen, mit denen jeder seine Kunsttücke vollführt. Als großes Finale intonieren sie zu dritt Chic Coreas spanische „Fiesta“, und Rantala lässt seine Stride-Piano-Fröhlichkeit erstrahlen, die nicht nur finnische Winterdepressionen im nu vertreibt. Irgendwann bearbeiten alle gemeinsam den selben Flügel, ehe Mozdzer sich zurückzieht. Andächtig schaut er Wollny und Rantala zu, bis er sich unvermittelt aufs E-Piano setzt – ein herrlich dadaistischer Knalleffekt, den er zwei-, dreimal wiederholt. Verdient baden die drei virtuosen Teamplayer im Applaus; sie haben dem Festival eine Sternstunde bereitet.