Vernachlässigte Kinder und Misshandlung: Niemand in der Republik kennt sich mit dem wohl traurigsten Thema der Polizeiarbeit besser aus als Gina Graichen. Nun geht die dienstälteste Kommissarin aus Berlin nach 33 Jahren in den Ruhestand.

Berlin - Das Foto. Man kann nicht hinsehen. Man will wegsehen. Aber es nützt nichts. Das Bild verschwindet nicht mehr. Ein kleiner Junge, keine zwei Jahre alt, Speckärmchen, kleine, tapsige Hände. Ein Farbfoto, der Bluterguss am Kopf schimmert bläulich. Da ist nichts mehr in diesem Gesicht, das eine Auge blickt leer, das andere ist zugeschwollen. Längst hat sich die kleine Seele verkapselt. Nächstes Bild. Der Junge auf allen vieren, in einer Pfütze. Yannick. Der Stiefvater wird später in der Vernehmung zu Gina Graichen sagen, dass er den Jungen gezwungen hat, den eigenen Urin aufzulecken. Eine Erziehungsmaßnahme, die der Sozialpädagoge selbst fotografisch festhielt. Es war die letzte. In der Nacht starb das Kind. Sein Schädel brach, als der Mann es mit dem Kopf gegen die Kante der Türzarge schlug. Es hatte ihm, auf einer Matratze im Flur liegend, zu laut geweint.

 

Wie geht man mit solchen Fotos, mit solchen Geschichten um? In den Akten, im Kopf, im Herzen? „Wir reden hier sehr viel miteinander“, sagt Gina Graichen. Wir – das ist das Team des einzigen deutschen Kommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen in Berlin. Niemand in der Republik kennt sich mit dem wohl traurigsten Thema der Polizeiarbeit besser aus als Gina Graichen. Jetzt geht die dienstälteste Kommissarin in den Ruhestand. Seit 33 Jahren beschäftigt sie sich mit den Unvorstellbarkeiten, die Erwachsene Kindern antun. Und mit der Frage, wie man Kinder davor bewahren kann. Wer die Kommissarin bei ihrer Arbeit besucht, den holt sie in der hohen Halle des backsteinernen Kripobaus ab – eine kleine, energiegeladene Frau in tailliertem Sakko und Jeans – sie geht voraus, zügig treppauf, und je näher man ihrer Dienststelle kommt, desto mehr schieben sich die Welten übereinander.

Wer als Kind hierherkommt, bei dem ist was gewaltig schiefgegangen

Da ist die Behördenwelt mit geschlossenen Türen, Dienstnummern und Vernehmungszimmern. Ein Ort, in dem Kinder nicht vorkommen, jedenfalls, wenn nichts schiefgeht. Und dann läuft man, mitten im Flur, auf ein Kindertischchen zu. Sehr klein wirkt es da in dem dunklen, hohen Gang. Und sehr bunt. Eine Puppe sitzt drauf, neben Klötzchen, Büchern, Stiften. Wer als Kind hierherkommt, bei dem ist was gewaltig schiefgegangen.

33 Jahre, das ist ein Zeitraum, für den man besser nicht die Gesamtzahl der Opfer überschlägt. 670 waren es 2015. Die Zahl in Berlin ist höher als in jeder anderen deutschen Stadt, auch im Verhältnis. Aber die Berliner sind nicht grausamer zu ihren Kindern als andere. Die hohe Zahl hat etwas mit der Arbeit von Gina Graichen zu tun: seit vielen Jahren versucht sie erfolgreich, die Gesellschaft zum Hinsehen zu zwingen. Denn Kinder, die misshandelt werden, gehen nicht selbst zur Polizei. Jemand muss auf sie aufmerksam werden. Sonst bleiben sie im Dunkelfeld. Oft geht es ums nackte Überleben.

Die Horrorjahre 2002 und 2003 ließen Gina Graichen nicht ruhen

Wie retten wir mehr Kinder? Es war diese Frage, die das Team um Gina Graichen in den Horrorjahren 2002 und 2003 nicht ruhen ließ. Sie alle steckten mitten in einer Serie von grausamen Ereignissen, hatten die Bilder von totgeschlagenen Kindern im Kopf. Im Januar 2002 wurden sie in eine Wohnung nach Wilmersdorf gerufen. Der Geruch hatte einen Nachbarn schließlich genervt. Nebenan wohnte eine 22 Jahre alte Frau mit einem zweieinhalbjährigen Kind. Es hatte zu diesem Zeitpunkt schon lang aufgehört zu schreien. Die Mutter war tagelang nicht gesehen worden. Ein Feuerwehrmann kletterte auf den Balkon und brach ein. „Der Müll lag kniehoch“, erinnert sich Gina Graichen. Überall, im Flur, in beiden Zimmern: 480 benutzte Windeln zählten sie und ihre Kollegen.

Die Beamten suchten. Hinter der Tür zwischen einem Sessel und der Couch fanden sie, zusammengekauert, die Leiche des kleinen Jungen. Hierhin hatte sich das hungernde Kind zum Sterben verkrochen. „Es war eine Serie von Fällen, die uns zur Verzweiflung trieb, weil es an so vielen Stellen hätte anders, besser laufen müssen“, sagt Gina Graichen, und auch jetzt noch, 15 Jahre später hört man in dieser so sachlich klingenden Stimme eine dunklere Färbung.

Alle paar Wochen fanden die Polizisten ein weiteres totes Kind

Die Mutter, die ihr Kind zu Tode vernachlässigt hatte, war den Behörden schon als Jugendliche bekannt. Damals war sie schwanger, gab das Kind zur Adoption frei und wurde vom Jugendamt betreut. Bei der zweiten Schwangerschaft waren die Behörden überzeugt, dass sie als Mutter allein Verantwortung übernehmen könnte. Ein furchtbarer Fehler.

So reihte sich ein Fall an den nächsten. Alle paar Wochen fanden die Polizisten in dieser Phase ein weiteres totes Kind – verhungert, erschlagen, erstochen. Dann kam Marie. Die Ermittler fanden das 16 Monate alte Mädchen hinter einem Schrank. Dort stand, versteckt, ein Kinderbett. Das Mädchen war mit Mullbinden ans Bettchen gefesselt, klein wie ein Säugling, unterernährt, übersät mit Biss- und Schlagspuren. „Sie weinte tonlos“, sagt Gina Graichen. Marie überlebte. Aber die Ermittler sahen damals auch: Sie hätte viel früher gerettet werden müssen. Ein Nachbar hörte das Kind immer wieder weinen. Irgendwann rief er dann beim Bezirksamt an. Dreimal wurde er weiterverwiesen, bis er schließlich beim Sachbearbeiter landete. Der hatte den Anrufbeantworter geschaltet, weil sein Dienst um 14 Uhr endete. Der Nachbar sprach drauf. Und bekam nie einen Rückruf. Das Kind aber ließ ihn nicht los. Und so wählte er 14 Tage später die 110.

Die Reaktion auf die Notruf-Plakatkampagne war gewaltig

Seit Marie stehen im großen Büro von Gina Graichen zwei Telefone. Eines davon ist das sogenannte Berliner Hinweistelefon, das damals ins Leben gerufen wurde und inzwischen rund um die Uhr erreichbar ist. „Wir wollten unbedingt, dass die Berliner wissen, wo sie sich melden können“, sagt Gina Graichen. Damit möglichst kein Anrufer mehr mehrere Versuche braucht, verunsichert wird, sich als Denunziant fühlt – oder Angst hat, nicht anonym zu bleiben.

Gina Graichen und ihr Team entwarfen eine Plakatkampagne für den Notruf. Die Reaktion war gewaltig. „Es kam über uns wie ein Tsunami“, erinnert sich die Kommissarin. Die Zahl der angezeigten Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung in Berlin stieg sprunghaft an, das Kommissariat erstickte in Arbeit. Damit kamen auch die Schlagzeilen, mit denen sich Gina Graichen nicht nur Freunde machte: „Hauptstadt der Kindesmisshandlung.“ Dabei zeigt die Statistik vor allem eins: „Der Grund für die Zahlen ist, dass wir einen Spitzenplatz bei der Aufhellung des Dunkelfelds einnehmen.“ Vielfach wurde Gina Graichen inzwischen für ihre Arbeit geehrt – sie erhielt den Verdienstorden und den Prix Courage des TV-Magazins „ML Mona Lisa“.

Die Täter sind Eltern, Stiefeltern, Verwandte – und sie kommen aus allen Schichten

Auch jetzt noch beantwortet Graichen hier Anrufe, hört zu, fragt nach und klärt auf – und versucht mit ihrem Team seit Jahren alles, um die Lücken zu füllen, durch die im Netz der Helfer und Retter immer wieder Kinder fallen. Denn die Lücken, die gibt es immer noch. Da sind die Ärzte, die Spuren nicht erkennen. Oder die denken, ihre Schweigepflicht verbiete es ihnen, aktiv zu werden. Da sind Jugendamtsmitarbeiter, die das Vertrauen ihrer Betreuten nicht missbrauchen wollen und deshalb lieber an der Tür stehen bleiben, Kita-Erzieherinnen, die nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, Lehrer, die glauben, es sei kein Grund nachzuhaken, wenn das Kind immer ungewaschen und hungrig ist. „Kinder retten, das bedeutet Aufklärungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit“, sagt Gina Graichen. „Und das machen wir, so viel wir können.“

Dazu gehört auch das Aufräumen mit Klischees bei der Frage: Wer sind die Täter? Die nämlich sind Eltern, Stiefeltern, Verwandte – und sie kommen aus allen Schichten. „Meistens werden Fälle aus sozial schwächeren Familien bekannt“, sagt Gina Graichen. „Aber wir haben auch Beamte, Lehrer, Manager als Täter.“ Allerdings laufe Gewalt in wohlhabenderen Familien häufig subtiler ab, sei besser versteckt. „Menschen aus diesem Teil der Gesellschaft werden seltener angezeigt.“

Frauen hatten ursprünglich keine polizeiliche, sonderneine pflegerische Ausbildung

Wie hält man das Eintauchen in diesen Teil der Wirklichkeit 33 Jahre lang aus? Und wieso macht man das? „Ich hab das ja nicht geplant“, sagt Gina Graichen. Aufgewachsen ist sie in Schmargendorf, zur Polizei ging sie, weil sie eine Anzeige in der Zeitung las. Jahrelang arbeitete sie im Mobilen Einsatzkommando, observierte Verdächtige. In das neue Kommissariat wechselte sie, weil es spannend klang. Erst einmal war aber einiges ziemlich gewöhnungsbedürftig. „Die Drachenburg“ wurde die Dienststelle genannt, was mit der Geschichte und den älteren Kolleginnen zu tun hatte. Die Dienststelle war aus der sogenannten weiblichen Kriminalpolizei hervorgegangen – einer in den 20er Jahren gebildeten Truppe, die sich einst auf die Betreuung minderjähriger Zeugen, Opfer und Straftäter spezialisiert hatte. Frauen hatten ursprünglich keine polizeiliche, sondern eine pflegerische Ausbildung.

Etwas von diesem Geist war auch noch im Jahr 1984 vorhanden. „Man bedeutete mir, ich solle nicht jeden Tag Hosen tragen“, erinnert sich Gina Graichen. „Und an der Garderobe hing der Gerichtshut – den hatte jede Beamtin aufzusetzen, die zu einer Aussage zu Gericht ging.“

„Irgendwann hält man die Vorstellung nicht gut aus, nicht mehr hinzusehen“

Heute steht in Gina Graichens Büro ein riesiger Tisch – ein Exemplar, um das man sich versammeln kann, einander in die Augen sehen, reden. Hier wird morgens der Tag geplant, werden Ermittlungen besprochen. Und manchmal ist auch einer der Mitarbeiter den Tränen sehr nahe. Oder alle. „Bei Yannick war das so“, sagt Gina Graichen. Es geht manchmal nicht anders. Es tut weh.

Aber die meisten Kollegen bleiben viele Jahre im Team. Wie das geht? Verantwortung, Verpflichtung, die vielleicht durch Erfahrung entsteht. „Irgendwann“, sagt Gina Graichen, „hält man die Vorstellung nicht gut aus, nicht mehr hinzusehen.“