Vor 35 Jahren ist MTV in den USA auf Sendung gegangen. Damit startete der Erfolgszug des Musikfernsehens, das mit dem Pop auch gleich das ganze Popgeschäft revolutioniert hat.

Stuttgart - Sommer 1981, 1. August: Neil Armstrong steigt schon wieder aus der Mondfähre Eagle und rammt heroisch eine Flagge in die Oberfläche des Mondes. Doch es ist nicht die Flagge der USA. Es steht MTV drauf, „Music Television“ – und was das wirklich zu bedeuten hatte, ließ schon der allererste Clip ahnen, der in diesem in New York angesiedelten Sender gelaufen ist: „Video Killed The Radio Star“ von The Buggles. Es war der Tag, an dem die Popmusik anfing, ihre bunte Show nicht nur in Spezialsendungen abzuziehen, sondern rund um die Uhr.

 

The Buggles - Video Killed The Radio Star from Amir Abedin on Vimeo.

Im Gegensatz zum Radio transportierte MTV die auch heute noch wichtigsten Pop-Accessoires verbraucherfreundlich auf dem Silbertablett: Lifestyle und Inszenierung. Jeder konnte nun sofort sehen, wie sich Michael Jackson gibt, was er trägt oder wie man tanzen sollte, um auf der Tanzfläche ähnliche Erfolge zu verbuchen wie der King of Pop. Musik wurde plötzlich flächendeckend visualisiert. Und wer dem standhalten wollte, tat gut daran, sich fortan ebenfalls überlebensgroß in Szene zu setzen. „Larger than life“, heißt das in den USA.

Irre Outfits, toupierte Haare und Rock’n’Roll

Nach Anfangsschwierigkeiten trat MTV dann auch gleich den ersten Trend los: Def Leppard, eine bis dato mäßig erfolgreiche britische Heavy Metal Band, aber gesegnet mit gutem Aussehen und fantastischen Songs. Ihre bereits dritte Platte „Pyromania“ wurde dank MTV zum Millionenseller. Das war gleichzeitig der Startschuss für eine Reihe schriller Hardrock-Bands aus Los Angeles. Mötley Crüe, Ratt, W.A.S.P., Poison: Bettelarme Straßenkids reichten da ihre sexualisierten Allmachtsfantasien dem Publikum, dazu irre Outfits und toupierte Haare, Rock’n’Roll und Rebellion, alles nutzerfreundlich in quietschbunten Videoclips. Und spätestens, als Twisted Sister mit „We’re Not Gonna Take It“ gegen den US-Zeitgeist und damit auch gegen den Präsidenten Ronald Reagan anbrüllten, war auch der Bürgerschreck bestens in Szene gesetzt. Warnhinweise auf Platten („Explicit Content“) waren die Folge dieser neuen Aufmerksamkeit, die MTV auch Musikern wie Prince verschaffte. Und sie wurden zu einem Ritterschlag, den die damals auch noch junge Rap- und Hip-Hop-Szene ebenfalls dankend annahm.

MTV beschleunigte die Popkultur und vergrößerte ihre Streuung – und die komplette Musikindustrie richtete sich nach diesen neuen Möglichkeiten aus. Wer einen Künstler zum Popstar machen wollte, brauchte nun nicht nur mindestens einen Hit zuzüglich plakativem Videoclip, er brauchte auch die endlose Wiederholung im Programm – ohne „Rotation“ war alles nichts wert. Fortan war das Ziel von Plattenfirmen, ihre Künstler mit aller Finanzkraft in den erlauchten Kreis derer zu rücken, deren Videoclip mehrmals am Tag gespielt wurde. MTV gab auch den Sparten ein Zuhause und legte beispielsweise mit Rap bei „Yo! MTV Raps“, Heavy Metal beim „Headbanger’s Ball“ oder Alternative bei „120 Minutes“ den Finger an den Puls der Zeit. Wer sich durchsetzte, rückte ins Hauptprogramm.

Englisch lernen mit Ray Cokes und Beavis und Butthead

Ein ertragreiches Geschäftsmodell war geboren, das sich nur noch lokalen Begebenheiten anpassen musste, um noch größere Märkte zu erschließen. Am 1. August 1987 ging MTV Europe mit freundlichen Grußworten von Elton John auf Sendung, dazu sangen die Dire Straits „Money For Nothing“, obwohl da bereits jedem klar war: Hier ist Geld zu verdienen!

Eine ganze Generation Europäer vertiefte ihre englischen Sprachkenntnisse mit Hilfe von Moderatoren wie Ray Cokes, Idioten wie „Beavis and Butthead“ oder dem seriös wirkenden US-Anchorman Kurt Loder, der die Kunst beherrschte, einen Bassistenwechsel bei Metallica oder eine Erkältung bei Jon Bon Jovi mit ähnlicher Ernsthaftigkeit vorzutragen wie ein Nachrichtensprecher.

Mit Viva startete dann die deutsche Gegenbewegung. Viva: das klingt wesentlich verheißungsvoller als das hinter dieser Abkürzung stehende Wort „Videoverwertungsanstalt“. Der Kölner Musiksender nahm seinen Betrieb am 1. Dezember 1993 mit „Zu geil für diese Welt“ von den Fantastischen Vier auf. Die deutsche Konkurrenz aber tat der Bewegungsfreude von MTV keinen Abbruch: Der Sender konterte 1997 mit MTV Central und einem deutschsprachigen Angebot, aus dem später MTV Germany hervorgehen sollte.

Von der Popkultur überholt

Die Schwierigkeiten der Branche wurden erstmals deutlich, als MTV und Viva ihre Zuschauer mit ausufernden Werbebanderolen bombardierten, die Werbung für Handy-Klingeltöne machten oder die Einnahmen mit kostenpflichtigen Telefon-Hotlines aufbesserten, die den Zuschauern Mitbestimmung beim – interaktiven – Programm suggerierten. Spätestens als der ambitionierte Viva-zwei-Sender eingestellt wurde, war klar: Die Popkultur war schneller und beweglicher geworden als ihre einstigen Architekten. 2004 wurde Viva vom MTV-Dachverband Viacom geschluckt. Die MTV-Angebote sind lediglich noch im Pay-TV Bereich zu empfangen.

Musikfernsehen heute bedeutet: You Tube und weiterzappen, wenn’s nicht gefällt. MTV und VIVA bedeuten: krawallige Reality- oder Datingshows, in denen sich Teens und Twens anbrüllen, Reality-Dokus mit abgehalfterten Rockstars, Personality-Shows, Comedy-Formate und Cartoon-Shows. Musikvideos sind nur noch ein kleiner Teil des Angebots, das mittlerweile größtenteils aus Show-Ideen besteht, die früher zur Auflockerung des Programms entwickelt wurden. Es wird fast ausschließlich Lifestyle für eine kaufkräftige junge Generation angeboten. Die Sender reagieren auf den Zeitgeist, steuern ihn aber nicht mehr. Sollte also demnächst wieder jemand auf dem Mond landen, wird das eine Frau im Bikini sein, die ihren doofen Ex-Freund anbrüllt – und eine hysterische Jury wird mit einem Faustschlag auf den nervtötenden Buzzer entscheiden, ob die beiden es nochmals miteinander versuchen sollten.