Ukrainische Politiker haben der Opfer des schlimmsten Unglücks in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernkraft gedacht. Ein Abschied von der Atomenergie ist aber trotz Tschernobyl weder in der Ukraine noch beim Nachbarn Russland ein Thema - im Gegenteil.

Kiew/Moskau - 35 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl hat die Ukraine unweit des stillgelegten Kraftwerks ein Zwischenlager für nuklearen Müll in Betrieb genommen. Ziel sei es, „die Sperrzone in ein Territorium der Wiedergeburt zu verwandeln“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der größten Atomkatastrophe der zivilen Nutzung der Kernkraft. In dem Zwischenlager sollen Brennstäbe der drei stillgelegten Kraftwerksblöcke für etwa 100 Jahre lagern. Mit dem Bau war bereits im Jahr 2001 begonnen worden.

 

Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, erinnerte bei einer Gedenkveranstaltung in der Hauptstadt außerdem an die vielen Menschen, die damals „zum Preis ihrer eigenen Gesundheit und ihres Lebens mit den Folgen der technischen Katastrophe kämpften“. Mehr als 600 000 Menschen halfen laut dem Ex-Boxweltmeister bei der Beseitigung der Unglücksfolgen, löschten etwa den Brand und räumten Trümmer weg.

Zehntausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt

Infolge der Explosion des Blocks vier im damals noch sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 wurden radioaktiv verstrahlte Landstriche um die Atomruine gesperrt. Es gab Tausende Tote und Verletzte. Zehntausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt. Kiew will das Gebiet nun zunehmend wirtschaftlich nutzen. Im Sommer soll ein weiteres Zwischenlager in Betrieb genommen werden - für Atommüll aus drei von aktuell vier ukrainischen Kraftwerken. Reiseanbieter organisieren zudem Touren in die Sperrzone.

Heute leben laut Klitschko in Kiew mehr als 48 000 von der Katastrophe Betroffene, Umgesiedelte und sogenannte Liquidatoren. Anlässlich des Jahrestages erhielten alle eine einmalige Zahlung von umgerechnet zwischen 18 und 30 Euro. Landesweit blendeten die TV-Sender eine Trauerkerze ein. Selenskyj eröffnete außerdem gemeinsam mit dem Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation, Rafael Grossi, eine Tschernobyl-Ausstellung.

Ungeachtet der Atomkatastrophe kommt heute mehr als die Hälfte der ukrainischen Elektroenergie aus Kernkraftwerken. Auch beim Nachbarn Russland ist eine Abkehr von der Atomenergie nie ein größeres Thema gewesen. Der wissenschaftliche Leiter des russischen Instituts für atomare Sicherheit, Leonid Bolschow, betonte bei einer Pressekonferenz, dass es sich um eine „ziemlich sichere Technologie“ handele und die Angst in der Bevölkerung überzogen sei. Russlands Atomkonzern Rosatom baut in vielen Staaten neue Reaktoren und hat auch ein schwimmendes Atomkraftwerk in Betrieb genommen.

Europaweiter Ausstieg aus der Kernkraft gefordert

Die Organisation „Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges“ hingegen forderte anlässlich des Jahrestages einen europaweiten Ausstieg aus der Kernkraft. Neueste Studien zu Tschernobyl zeigten, dass die Niedrigstrahlung nach Atomunfällen nicht nur Krebserkrankungen, sondern auch andere schwere Krankheiten sowie Auswirkungen auf das Erbgut verursachen könne, schrieben die Mediziner. Sie kritisierten, dass wirtschaftliche Interessen über gesundheitliche gestellt würden.

In der Region Tschernobyl sorgen immer wieder auch Wald- und Flächenbrände für Aufsehen, bei denen radioaktive Teilchen aus dem Boden wieder aufgewirbelt werden.

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bezeichnete Tschernobyl als „ökologische, wirtschaftliche und soziale Katastrophe“ für sein Land. Die nukleare Wolke war damals vor allem nach Belarus gezogen und hatte dort besonders großen Schaden angerichtet. Vor einigen Monaten nahm das Land dann mit russischer Hilfe selbst sein erstes Atomkraftwerk in Betrieb.