Anno 1971 fordert eine Backnanger Clique von der Stadt einen Treffpunkt „ohne Verzehrzwang“. Nun wird das Juze vierzig.  

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Backnang - Im Entree dieses Domizils der Gegenkultur hängen ein paar Fetzen, die an vergangene Veranstaltungen erinnern. Der Besucher erkennt Plakatfragmente der deutschen Punkband Normahl und anderer Rockgruppen, deren Name Programm ist: The Sinful Saints (Die sündhaften Heiligen) zum Beispiel und Wasted Youth (Verschwendete Jugend). Daneben klebt ein Zettel mit den Eintrittspreisen: "Mit Glied sechs Euro, Ohne Glied acht Euro, Neues Glied dreizehn Euro." Hereinspaziert ins älteste selbstverwaltete Jugendzentrum Deutschlands!

 

Im Konzertraum stehen abgewetzte Sofas, der Holzboden trägt die Spuren wilder Pogotänze. Dazu ein Tischkicker, ein Aschenbecher in Form eines Schweins und derbe Sprüche an den Wänden. Die Halbe Alpirsbacher Spezial oder Gaildorfer dunkel gibt's für 1,80 Euro; billiges Bier war schon immer eines der Markenzeichen im Juze Backnang. Man erzählt sich hier gerne folgende Geschichte: Der Vorstand wollte vor vielen Jahren die Preise für den Gerstensaft anheben - er wurde sofort abgewählt.

Das Juze gibt es seit vier Jahrzehnten. Im April 1971 gegründet, kommt es jetzt ins Schwabenalter. Von heute an gibt's zehn Tage lang Remmidemmi. Zum großen Jubelprogramm gehören ein Wettfressen, ein Galaabend und eine 71er-Party. Zuvor soll noch eine Frage geklärt werden: Was genau gibt's hier eigentlich zu Feiern?

Daniel Mouratidis kommt als Erster zum Gespräch der vier Generationen, in der Luft liegt kalter Zigarettenrauch vom Vorabend. "Hier riecht's wie früher", sagt er und strahlt. Mouratidis saß in den Neunzigern im Juze-Vorstand, er ist jetzt 33 und trägt einen kleines Wohlstandsbäuchle spazieren. Mouratidis ist bei den Grünen eine große Nummer. Als baden-württembergischer Landesvorsitzender wurde er zwar kürzlich in die Wüste geschickt. Anschließend hat der Verwaltungswissenschaftler Mouratidis allerdings die Grünen bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt als Manager der Kampagne zurück ins Landesparlament geführt. Keine Frage: er hegt weitere Ambitionen.

Das Juze gibt es seit vier Jahrzehnten

Andreas Fisches taucht auf, 26, Bärtchen am Kinn, abgebrochenes Germanistikstudium. Die Kumpels nennen ihn kurz "Fisch". Er ist der aktuelle Vorsitzende des eingetragenen Vereins Aktion Jugendzentrum Backnang, jobbt "durch die Gegend" und hat momentan "nicht wirklich einen Plan", wie seine Zukunft aussehen könnte.

Als Dritter stößt Eric Bachert, 46, in die Runde. Der Mann mit dem Ultrakurzhaarschnitt, der sich selbst breit grinsend als einen Realsatiriker und Zyniker bezeichnet, war in den achtziger Jahren Juze-Vorsitzender. Damals hat er sich nach der Schließung des alten Jugendzentrums heftig mit der Stadtverwaltung gezofft und mit Gleichgesinnten schließlich erreicht, dass der Verein das alte Fachwerkhaus in der Mühlstraße bekommen hat. Das Juze wurde wiedereröffnet.

Bachert war später SPD-Stadtrat in Backnang und verdiente als Bankkaufmann seinen Lebensunterhalt. Anschließend war der Sohn eines Gewerkschafters ein paar Jahre lang als Purser beschäftigt, als leitender Flugbegleiter einer deutschen Airline. Dann ist er böse abgestürzt, Heroin war im Spiel und viel Wodka. Lange her. Bachert hat sich aufgerappelt, er ist clean, arbeitet als selbstständiger Veranstaltungstechniker und hat sein SPD-Parteibuch kürzlich abgegeben. Auch wegen Stuttgarter 21, wie er sagt. Dem Juze bleibt er treu, ab und zu kommt Bachert mit seiner Frau Eva zu einem Rockkonzert in das alte Fabrikgebäude, das er mit Freuden vor ziemlich genau 25 Jahren wieder aufgemöbelt hat.

Vierter im Bunde der Juze-Macher ist ein Mann der allerersten Stunde: Dieter Schäfer, 61, Gemütsmensch, grauer Wuschelkopf. Er hat den Mitgliedsausweis mit der Nummer eins. "Leider finde ich das Ding nicht mehr", erzählt der Pädagoge, der schon lange nicht mehr als Lehrer arbeitet. Schäfer ist Geschäftführer der Gedea, der Gesellschaft für dezentrale Energieanlagen in Murrhardt und zudem einer der Väter der alternativen Energiewerke Schönau, jener Stromrebellen aus dem Schwarzwald, die seit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl für den Ausstieg aus der Atomenergie kämpfen. Auch ihn hat das Engagement im Juze geprägt, das nun auf vier Jahrzehnte organisiertes Chaos zurückblickt.

Meine Herren, erzählen Sie doch bitte mal, wie alles anfing und wie es weiterging!

"Wir waren schon immer eindeutig links"

Backnang anno 1971: Dieter Schäfer und seine Kumpels sind gerade volljährig - mit 21. Sie fordern von der Stadtverwaltung einen Raum, in dem sie laut Musik machen können, einen Treffpunkt "ohne Verzehrzwang". Die große Politik ist ihnen nicht ganz so wichtig. Die Studentenrevolte, die drei Jahre zuvor durch die deutschen Universitätsstädte gerollt ist, hat in der schwäbischen Provinz kaum Spuren hinterlassen.

Die jungen Leute-Studenten, ein Volontär der Murrhardter Lokalzeitung und ein paar Lebenskünstler-bekommen ihren Wunsch erfüllt, die Stadt überlässt ihnen eine alte Baracke. Sie organisieren Möbel, bringen sich ein, diskutieren oft bis Ultimo. Zehn Leute und zwanzig Meinungen.

Nach ein paar Jahren muss das Juze zum ersten Mal umziehen, doch auch im neuen Domizil ist und bleibt das selbstverwaltete Jugendzentrum vielen Backnangern ein Dorn im Auge. Reibereien mit dem Bürgermeister, dem Kämmerer und vielen Stadträten gehören zum Alltag. Immer wieder findet sich Nachwuchs, der die nervenaufreibende Arbeit von den Vorgängern übernimmt, sich dem Streit mit dem Gemeinderat stellt und die von den Kommunalpolitikern verordnete Anstellung eines Sozialarbeiters erfolgreich abwehrt. Bachert sagt: "Im Jugendzentrum waren die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben." Sie mischen die lokale Politik auf.

Anfang der Achtziger werden Demos organisiert, gegen Atomraketen, gegen Nazis und für Antifaschismus. "Wir waren schon immer eindeutig links", sagt Bachert. Mouratidis berichtet von einem Neonazi im Juze. "Wir haben ihn mit dem Sofa, auf dem er saß, raus auf die Straße getragen." Der junge Mann kommt nie wieder.

Immer wieder herbe Auseinandersetzungen

Das Juze wird für viele "zu einem Raum für wilde Spiele" und zur zweiten Wohnstube, erinnert sich Bachert. Die jungen Leute hören die Sex Pistols, rufen "No Future" - und kümmern sich doch um die Zukunft ihres Hauses. Nach dem Rauswurf aus dem zweiten Domizil stehen Eric Bachert und seine Freunde fast zwei Jahre lang immer samstags mit einem Informationsstand auf dem Backnanger Wochenmarkt. Sie halten den Verein auch ohne Bleibe am Leben und schlagen so der Stadtverwaltung ein Schnippchen. Der Schultes hatte erwartet, dass der Spuk nach der Schließung endet. Von wegen. Im OB-Wahlkampf 1986 ringen die Juze-Kämpfer dem späteren Stadtoberhaupt Hannes Rieckhoff das Versprechen ab, im Falle seiner Wahl ein neues Haus zu bekommen. Der Christdemokrat Rieckhoff hält Wort, seither ist er Ehrenmitglied im Juze-Verein.

In der Mühlstraße entwickelt sich das Jugendzentrum nach und nach zu einem festen Bestandteil im kulturellen Leben der Stadt und zum regional bedeutenden Konzertveranstalter. Es gibt zwar immer wieder herbe Auseinandersetzungen. Mal mit der Stadt, etwa wegen nächtlicher Ruhestörung. Mal mit der Kirche, wegen schriller Aktionen, beispielsweise wegen einer Weihnachtsplakatserie mit dem Titel "Wir warten aufs Christkind - bis es gar ist": Auf einem Poster ist das Jesusle in einem Mikrowellengerät zu sehen. Legendär ist der Sturm des Weihnachtsbaums, einer Fete am ersten Feiertag, zu der die Massen strömen. Und mit der Murr-Regatta, bei der Jahr für Jahr Anfang Juli viele Dutzend Hobbykapitäne auf seltsamen, selbst gebauten Wasserfahrzeugen den Heimatfluss hinunterpaddeln, landet das Juze sogar im Guinnessbuch der Weltrekorde.

Zu Daniel Mouratidis' Vorstandszeiten werden Veranstaltungen erfunden, die dem Zeitgeist mitunter weit voraus, aber selten bierernst gemeint sind. Etwa der Singleabend oder die Mallorcaparty, für die zwei Tonnen Sand in den Konzertsaal gekippt werden. Eine Feier, die das Münchener Oktoberfest persiflieren soll, kommt bei wirklichen Freunden der Blasmusik so gut an, dass sie abgesetzt werden muss. "Das ist am eigenen Erfolg ersoffen", erzählt Mouratidis.

Im Backnanger Juze hätten Generationen von Jugendlichen gelernt "quer und um die Ecke zu denken, Kategorien aufzubrechen", sagt der Grünenpolitiker. Davon profitiere er noch heute, etwa in Wahlkämpfen. Wer im Jugendzentrum sozialisiert worden sei, der könne improvisieren, der bleibe auch bei Gegenwind locker und "lässt den Ball rollen".

Ironie und Selbstironie

Der Junior Andreas Fisches spricht mit Blick auf die Zusammenarbeit von Juze und Stadtverwaltung, "die zurzeit ganz gut läuft", von einem ständigen Lernprozess. Und der Senior Dieter Schäfer findet es "unglaublich, dass sich die Arbeit seit 40 Jahren fortsetzt", zwar mit einem Vorstand, "aber alle entscheiden mit". Diese Debattenkultur sei vorbildlich.

Zwei Charaktereigenschaften besitzen alle Macher im Jugendzentrum Backnang: Ironie und Selbstironie. Nie nehmen sie sich selbst allzu ernst. Hinter der Theke hängt ein älterer Artikel aus der Lokalzeitung, in dem es um die Wahl von Daniel Mouratidis zum Landesvorsitzenden der Grünen geht. Ein Spaßvogel hat die Überschrift durchgestrichen und handschriftlich ergänzt: "Der steile Absturz eines Hoffnungsträgers." Breites Grinsen in der Runde der Ehemaligen.

Es ist spät geworden an diesem Abend im Juze. Nach und nach trudeln die Stammgäste ein. Bevor er sich verabschiedet, erzählt Eric Bachert von einem Jugendlichen, der ihn kürzlich im Juze mit den Worten begrüßt habe: "Jetzt kommen die Alten schon zum Sterben her."

Jubiläumsprogramm unter www.juzebacknang.com