Mit der Performance „Sperrstunde“ will das Theaterduo Tacheles und Tarantismus der gebeutelten Clubszene ein Denkmal setzen. Ein Versuch zwischen hehrem Anspruch und harter Wirklichkeit.

Stuttgart - Im Zeichen der Pandemie gibt es kein Grundrecht auf Party. Viele denken, es gäbe zur Zeit ohnehin Wichtigeres. Die Not derjenigen, die im Nachtleben ihre wirtschaftliche und soziale Existenz, ihr persönliches Glück und kreatives Selbstverständnis verorten, ist trotzdem schmerzhaft real. Den nun auf sich selbst zurückgeworfenen Nachtschwärmern hat das Performance-Duo Tacheles und Tarantismus, bestehend aus dem Dramaturgen Tobias Frühauf und dem Regisseur Philipp Wolpert, am Wochenende einen 48-stündigen Installationsmarathon mit dem Titel „Sperrstunde“ gewidmet. Ausgerichtet wurde Die Veranstaltung unter größtmöglichen Hygienevorkehrungen als Kooperation des Stadtpalais mit dem Staatstheater und dem Popbüro – mit Schauspielern, Musikern und DJs, die erst nach einwöchiger Quarantäne und erfolgter Negativ-Testung in den Pop-up-Klub einziehen durften. Das Publikum feierte per Liveschaltung virtuell im Internet mit.

 

Man wolle ein „Pandemie-gerechtes Theaterformat in den virtuellen Raum transferieren“ und „den Prozess sichtbar machen“, erklären Philipp Wolpert und Tobias Frühauf ihr Programm zur Eröffnung am späten Freitagnachmittag. Es wird eine fiktive, sich live entspinnende Handlung versprochen. Dramaturgische Absprachen werden direkt auf der Szene getroffen, bei stumm geschalteten Mikros. Walter Ercolino vom Popbüro verliest noch ein paar Zeilen aus dem Band „Celebration“ des Pop-Literaten Rainald Goetz, der einst mit Westbam, einem Urvater der deutschen Rave-Bewegung, ein Buch veröffentlicht hat.

Zwischen Scheitern und großen Momenten

Die Stimmung ist ernst, fast feierlich, die jungen Theatermacher sprechen vom Scheitern und von großen Momenten, denen man in den folgenden zwei Tagen beiwohnen könne.

Die Installation selbst gliedert sich nominell in mehrere inhaltliche Episoden. Die erste steht unter dem Titel „Im Zirkus der aufgehobenen Schwerkraft“ und dient zur Vorstellung der Akteure. Der Moderator Jürgen Bretsch (Jannik Mühlenweg vom Staatstheater Stuttgart) und ein zweiter Conferéncier namens Manfred Tito (Andreas Posthoff vom Theaterschiff Heilbronn) sollen dem Publikum einen Weg zwischen Handlungsbrocken und DJ-Sets weisen. Bretsch, im silbernen Glitzerjackett und mit Afro-Perücke, sitzt wie ein Inspizient in seiner Schaltzentrale vorm Monitor, während der zur Drag-Queen geschminkte Tito im Pelz die kleine Schar seiner Gäste interviewt. Die Schriftstellerin Maude aus München, streng und verklemmt, mit geheimnisvoll schwieriger Kindheit, dann Cleo, 20 Jahre alt, Einzelkind, Kostümassistentin am Theater und Fanta-Trinkerin. Ludovic ist älter, ein seriöser Datenanalyst, aber auch talentierter Sänger und verlogen, dazu ein Hygiene-Nerd, der sich ständig die Hände desinfiziert. Die Schweizerin Dominique gibt sich als Aktivistin für Tier- und Umweltschutz zu erkennen.

Die Vorstellung weckt Neugier und die Erwartung auf einen fortlaufenden Plot. Doch in den folgenden zweieinhalb Stunden erfährt man über die divers zusammengewürfelte Clique wenig mehr. Stattdessen gibt es ein ödes Karaoke mit Songs von Modern Talking und Queen, falsche Kokslines auf dem Dixiklo, eine erste, etwa halbstündige Unterbrechung für einen offenbar notwendigen dramaturgischen Eingriff und dann noch eine längere Übertragungsstörung. „Wacht auf, wacht auf! Das System ist überlastet! Es hat funktioniert!“, versucht eine der Figuren den Ausfall inhaltlich zu begründen. Die Gruppe ergeht sich im Tanz. Viel später liest Jannik Mühlenweg komplizierte Phrasen des Theateravantgardisten Antonin Artaud („Das Theater der Grausamkeit“) und des von Wolpert und Frühauf auf deren Homepage eitel als „Suhrkamp-Autor“ angepriesenen Architekten und Designtheoretikers Friedrich von Borries vor. Ein DJ liefert die zum Hintergrundwummern degradierte Musik dazu. Ein Facebook-User kommentiert: „Also ich würde den Sound gerne ohne die krassen Reden hören!“

Intelligent gedacht, banal auf der Bühne

Tatsächlich wirken die von Mühlenweg teils stammelnd vorgetragenen Theorie-Versatzstücke bloß wie Label, um die Intellektualität der Theatermacher zu beglaubigen und die banale Situation auf der Szene aufzuwerten. Sinn und mögliche Zusammenhänge dürften sich interessierten, im Verlauf von 48 Stunden aber noch mit anderen Dingen beschäftigten Zuschauern wohl nicht erschließen, wenn diese sich nur zeitweise in den Ablauf einklinken.

Warum Klubs im kulturellen Kontext wichtig sind und was urbane Kultur eigentlich auszeichnet, erhellen Frühauf und Wolpert so jedenfalls nicht. Dabei hätte man ernsthaft vom Klub als Raum für utopische Gesellschaften auf Zeit erzählen können, von Institutionen wie dem legendären Studio 54 in New York, dem Tresor in Berlin oder dem Konzept der Großdisco auf dem Land. Aber auch vom sozialen Widerspruch, dass die scheinbar tolerante Klub-Gemeinde mit ihren Türstehern dafür sorgt, dass manche gar nicht erst Einlass finden ins auf Dresscodes gegründete Paradies. So aber bleibt vom Projekt „Sperrstunde“ nicht viel mehr als das schale Gefühl, dass die Ansprüche größer waren als das Vermögen, sie zu verwirklichen.