Vor 50 Jahren wurde die Europabrücke am Brenner eingeweiht. Was damals als verkehrspolitischer Durchbruch gefeiert wurde, ist heute ein sklerotischer Engpass im Transitverkehr von Norden nach Süden.

Innsbruck - Vor 50 Jahren, am 17. November 1963, wurde die Europabrücke eingeweiht, das Kernstück der Brennerautobahn. Die Trasse träg bis heute die Hauptlast des Nord-Süd-Verkehrs. Der neue Basistunnel soll die fatalen Folgen für die Umwelt der Region mildern.

 

Nur 1371 Meter Meereshöhe – einfacher, flacher, bequemer kommt man nirgendwo über die Alpen. Und so zentral auch noch! Verkehrsgünstiger geht’s nicht. So haben sie „diesen Pass da“ seit der Steinzeit auch pausenlos genutzt, die Jäger und die Fernhändler, die Krieger, die Kaiser, die Mönche. Nur seltsam: einen Namen hat diesem bis heute wichtigsten Alpenübergang lange keiner gegeben. „Der Brenner“ heißt erst seit dem 14. Jahrhundert so, nach einem ansonsten vergessenen Bauern namens Chunrad, der sich dort ein paar Tagwerk Holz „gebrannt“ hat und wohl deshalb den Nachnamen „Prenner“ trug.

Dass der Brenner einmal bewaldet gewesen sein soll, kann sich niemand mehr vorstellen. Längst beanspruchen Eisen- und Autobahn den Platz auf der Passhöhe, dazu die Bundesstraße, so grau wie der Rest der Szene. Das Dorf, das seit dem Abbau der Grenzanlagen 1995 nach einer neuen Identität sucht und jetzt mit einem ebenso knalligen wie seelenlosen „Outlet-Center“ versucht, die Vorbeireisenden wenigstens einen Augenblick lang einzufangen.

Hier kam Martin Luther 1511 zu Fuß vorbei, auf dem Rückmarsch von Rom. Johann Wolfgang von Goethe, 1786 per Kutsche auf dem Weg ins „Land, wo die Zitronen blühn“, nächtigte im Hotel Post. Aber beiden Wortgewaltigen ist zum Brenner nichts Besonderes eingefallen. „In diese Felsenkluft eingeklemmt“ fühlte der Herr Geheimrat sich, und so sinnierte er da oben lieber über das Zustandekommen von Wolken und über das „Äußere des Menschengeschlechts“. Über die Nordtiroler und ihre „fröhlichen grünen Hüte zwischen den grauen Felsen“ und über die „elenden, erbärmlichen“ Gestalten im „mittägigen Tirol“, die außer „türkischem und Heidekorn“ nichts zu essen bekamen.

Einst stöhnten die Dichter – heute dröhnt der Verkehr

Der Brenner gehört seit jeher zu den Sehnsuchtsorten, allerdings zu jenen der besser vorübergehenden Sorte. Wer da oben steht, der weiß, dass jenseits der Kuppe das Gelobte Land beginnt, jedenfalls der aus dem Norden Anreisende. Vergleichbare Betrachtungen von Italienern sind nicht überliefert. „Ich rutsche über den Brenner nach Südtyrol hinab; da gibt’s noch Frühling und lustige Menschen und trinkbaren Wein“, schreibt der bayerische Romancier Michael Georg Conrad zu Ende des 19. Jahrhunderts. Sein Zeitgenosse Adolf von Wilbrandt, Direktor des Wiener Burgtheaters, stöhnt in romantischem Schwulst vom „holden Hauch des Südens“, der auf dem Brenner „formbildend rings die Höh’n verklärt / und sehnsuchtsvoll in deutscher Brust / aufstört die tiefe Wanderlust“. Geradezu den Massentourismus vorausahnend, prophezeit Wilbrandt dieser „Straße zum Paradies“: „Es werden nach vieltausend Jahren / auf dir die letzten Deutschen fahren.“

Um den Transitverkehr ohne weitere Umweltschäden zu bewältigen, bohrt man jetzt den Brenner-Basistunnel. Der Streit, ob das Projekt überhaupt ökologisch sinnvoll ist, hat die Arbeiten nicht gestoppt. Trotzdem: die Pioniere waren schneller. Sie brauchten von 1864 an nur drei Jahre, bis die erste, im Prinzip bis heute betriebene Brennerstrecke in Betrieb gehen konnte – obwohl sie den Tunnelbau revolutionierten: Sie schlugen Schienenspiralen ins Bergesinnere, um Höhe ohne allzugroße Steigung zu gewinnen.

Wenn in zwölf Jahren die Personenzüge dann mit bis zu 250 Stundenkilometern durch den Fels rollen, dann wird für ihre Passagiere der Brenner endgültig Geschichte sein. Keine vom „holden Hauch des Südens“ verklärten Höhen mehr, dafür eine zwischen München und Bozen halbierte Fahrzeit – oder anders gesagt: sagenhafte zweieinhalb Stunden mehr Zeit, im Sehnsuchtsland spazieren zu gehen.

Das Wunderwerk

Nicht ohne leises Befremden nähert sich der Gedichteleser seit jeher Brücken, die den Namen in der Neuzeit zu verdienen scheinen. Also diese hier zum Beispiel: hoch überm österreichischen Wipptal südlich von Innsbruck und wie auf massiven Stelzen gelegen. Komisch, dass einem auch fünfzig Jahre nach der Entstehung immer noch das altmodische Wort „kühn“ angesichts der Konstruktion in den Sinn kommt. Allerdings auch die Zeilen von Theodor Fontane, die er dichtete, als in Schottland bei Dundee 1879 die Firth-of-Tay-Brücke im Sturm einstürzte: „Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand . . .“ Muss man da nach einem halben Jahrhundert – am 17. November 1953 wurde die Brücke für den Verkehr freigegeben – Befürchtungen haben, wenn hier im Jahr zwölf Millionen Fahrzeuge drübergehen, davon alleine zwei Millionen Lkws?

„Definitiv nein“, heißt es in der Abteilung Bestandsmanagement bei der Asfinag (Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungsaktiengesellschaft), die im Besitz der Republik Österreich ist. Bei der Berechnung damals seien „gewisse Ressourcen eingebaut“ gewesen. Das halte bis heute. Erneuert wurde seitdem hauptsächlich der Fahrbahnbelag. Dass die beim Bau innerhalb von vier Jahren insgesamt 22 verunglückten Arbeiter in die Pfeiler eingemauert worden wären, gehört im Übrigen in die Abteilung schaurige Legenden, heißt es bei der Asfinag.

Obwohl der Gesamtzustand der Europabrücke insgesamt zufriedenstellend ist, denkt man über eine Sanierung nach, was freilich den dort fließenden freien Warenaustausch in der EU für Monate einengen, wenn nicht vorübergehend ganz beenden würde. Umfassende Sanierung bedeutete die Totalsperrung der Brennerautobahn, 40 Prozent des Alpentransitverkehrs wären betroffen.

Davon träumt die Bürgerinitiative Lebendiges Wipptal schon lange. Hatten die ortsansässigen Menschen in den sechziger Jahren die Europabrücke noch gefeiert, weil man sich einen leichteren Zugang der Touristen auch in entlegenere Dörfer versprach, ist dieser Enthusiasmus über die Jahrzehnte hinweg verschwunden. Schon wegen des Ausstoßes von CO2 sei eine neue Verkehrspolitik in Europa dringend notwendig, sagt Evelyn Schlögel von der Initiative, beklagt jedoch, dass sich in Brüssel wenig rühre.

So ist aus dem ehemaligen Wunderwerk der Technik, das allgemein als Tor in den Süden galt, eine der größten Baustellen der europäischen Verkehrspolitik geworden. Auch das Land Tirol hat seine Tourismusprogramme bereits teuer bezahlt – und tut es noch. Von der Haltestelle an der Europabrücke gehen zahlreiche Busse ab, die direkt ins Ötztal fahren. Dort vor allem konstatieren Tourismuskritiker allerdings eine zunehmende „Ballermannisierung“ der Alpen.