Fernsehen hat seine Bedeutung als Gemeinschaftserlebnis verloren. Die Zuschauer sind durch digitale Angebote unabhängig geworden. Medialen Konsens gibt es aber trotzdem, kommentiert Ariane Holzhausen.

Stuttgart - Es war, als würde Willy Brandt, damals Vizekanzler und Außenminister, gleich den ewigen Frieden ausrufen. Feierlich und staatstragend drückte er vor fünfzig Jahren, am 25. August 1967 um 10:57 Uhr, auf einen roten Knopf – und das Fernsehbild wurde bunt. Das Volk jubelte, jetzt konnte alles nur noch schöner werden. Bunter eben. Es war die Hippierevolution des kleinen Mannes, mehr Farbenpracht, aber ohne Werteerschütterung. Alle Dächer streckten ihre Antennen gen Himmel, jeder Haushalt griff nach den gleichen Bildern.

 

Das Fernsehen war ein Volksorgan und strukturierte jahrelang das Leben im Drei-Programme-Takt. Vater kam von der Arbeit, knipste den Kasten an und sah, was der Nachbar auch sah. Aus dieser Verbundenheit erwuchs zwangsläufig ein Gemeinschaftsgefühl. Das Fernsehen mutierte zum Lagerfeuer der Bundesrepublik. Das heimische Sofa bot dem Gemeinschaftstier Mensch lange Jahre die Sicherheit, dazuzugehören, das Gleiche wie Millionen andere zu erleben: Nachrichten, „Tatort“, Tierfilme.

Heute ist das Lagerfeuer erloschen, das Zentralorgan stirbt ab. Es gibt keinen Anschluss mehr an den einen Nervenstrang, der Kantinengespräche stets zuverlässig am Laufen hielt. Das letzte Zugpferd „Wetten, dass . .?“ ist tot, die Quoten vom einstigen Straßenfeger „Tatort“ sind im Vergleich zu früher mickrig. Auch die Verantwortlichen bei ARD und ZDF müssen sich dem Umbruch stellen.

Fernsehen ist für Jüngere ein Relikt aus fernen Zeiten

Wie vor 25 Jahren schon einmal, als sich das neue Privatfernsehen in die Grundversorgung einmischte. Die Zuschauer emanzipierten sich nun von der wertestrengen Bevormundung der Öffentlich-Rechtlichen, aber zugleich bröckelte das Gemeinschaftsgefühl. Die ersten Gruppen bildeten sich, wenn auch vorerst nur vier: Da waren die ARD-ZDF-Treuen, die Privat-Glotzer, die Alles-Gucker und diejenigen, die ihren Fernsehapparat abschafften.

So übersichtlich geht es in der Generation Fernsehkult nicht mehr zu. Wer mit digitalen Medien aufwächst, hat vom sozialen Anspruch ans Fernsehen keinen blassen Schimmer mehr. Fernsehprogramm und TV-Gerät sind für die Jüngeren staubige Relikte aus fernen Zeiten - oder sie kennen beides schon gar nicht mehr. Jugendliche finden sich heute sehr viel früher in der Rolle, in die Fernsehgucker von einst mühsam hineinwachsen mussten: in der des autonomen Zuschauers. Sie stecken ihr Kabel in die verschiedensten Netze, rufen bei Amazon, Netflix oder in der ARD-Mediathek ab, was sie wollen, wann sie wollen und wo sie wollen. Im Durchschnitt schauen die Deutschen noch 185 Minuten am Tag im klassischen Sinne fern. 2012 waren es noch 242 Minuten. Tendenz: weiter stark sinkend.

ARD und ZDF bauen zwar ihr Online-Angebot kontinuierlich aus, das gibt ihnen aber kaum ihre alte Rolle zurück. Die Jungen verbünden sich lieber in vielen kleinen Serien-Kenner-Grüppchen, gucken ihre Lieblingsfolge in der S-Bahn auf dem Smartphone. Und auch wenn es von außen so aussieht, sie fühlen sich dabei nicht allein. Das neue Gemeinschaftsgefühl vermitteln ihnen all jene Gleichgesinnten, die sie in den sozialen Netzwerken finden – und sei es eine Twitter-Gruppe, die die Sendung live kommentiert. Der Geschmack der meisten Menschen, der sogenannte Mainstream, ist heute Main-Streaming. Einhellig wird im Datenfluss nach medialem Konsens gefischt. Und jenes Sofa, das dem Gemeinschaftstier Mensch lange Jahre die Sicherheit bot, dazuzugehören, Erlebnisse mit Millionen anderer gemein zu haben, heißt heute schlicht Filterblase.

ariane.holzhausen@stzn.de