50 Jahre nach dem Bau der Mauer lässt Frederick Kempe in seinem Buch die Dramatik jener Tage wieder lebendig werden.

Stuttgart - Zwar wissen wir, wie die Geschichte mit der Berliner Mauer ausging, aber wir haben weitgehend vergessen, wie aufregend, ja gefährlich das Jahr 1961 gewesen ist. Der amerikanische Journalist Frederick Kempe versteht es ausgezeichnet, die Dramatik jener Tage wieder lebendig werden zu lassen. Sein auf neue Dokumente gestütztes Werk über den Konflikt zwischen dem amerikanischen Präsidenten Kennedy und dem Chef der KPdSU Chruschtschow ist ein Geschichtslesebuch im besten Sinn des Wortes.

 

Der Autor gewährt uns Einblick in die Beratungs- und Hinterzimmer des Kreml oder des Weißen Hauses, schildert aber auch die privaten Umstände der beteiligten Personen. Es ist eine Geschichte von gegenseitigem Misstrauen und von Missverständnissen, aber auch von Annäherungen, denn man bewegte sich am Rande eines Krieges. Kennedy war gerade erst ins Amt gekommen und wusste nicht so recht, wie er mit Chruschtschow und dem Ostblock insgesamt umgehen sollte. Der Kreml-Chef seinerseits wusste nicht, wie er den jungen Mann in Washington einschätzen sollte, setzte aber darauf, dessen Unerfahrenheit für sich ausnützen zu können. Er hatte einen Parteitag vor sich und wollte bis dahin die leidige Berlinfrage - er sprach von einer "schwärenden Wunde" - gelöst haben.

Adenauer als reaktionäres Relikt

Er sprach davon, in Berlin eine "normale Lage" zu schaffen und war bereit, einen Konflikt mit dem Westen zu riskieren. Zugleich wurde er von Ulbricht zu Maßnahmen gedrängt, denn für den SED-Chef, der sein Lebenswerk verteidigen wollte, war 1961 ein entscheidendes Jahr. Der DDR drohte der Zusammenbruch, wenn die "Republikflucht", die meist über Berlin lief, in dieser Stärke anhielt.

In Bonn misstraute der christdemokratische Kanzler Konrad Adenauer dem 42 Jahre jüngeren Präsidenten Kennedy, den er für eine "Kreuzung von Marinekadett und Pfadfinder" hielt. Würde er den bewährten harten Kurs gegen den Osten lockern? Umgekehrt sah Kennedy in Adenauer ein reaktionäres Relikt, mit dem eine neue Politik kaum möglich sein würde.

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen."

Entscheidend war die Begegnung von Kennedy und Chruschtschow in Wien, bei der der Kreml-Chef sogar von einem möglichen Krieg sprach. Er wollte einen Friedensvertrag mit der DDR, der Berlin einschloss: "Ihr Zutritt nach Berlin hört dann eben auf!" Kennedy zog sich auf die Linie zurück: macht mit Ostberlin, was ihr wollt, aber tastet unsere Rechte nicht an.

Ulbricht war damit zufrieden und sagte: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen." Aber damit war das Wort in der Welt, die Pläne dafür hatte die SED längst ausgearbeitet, denn pro Woche verließen an die Zehntausend Flüchtlinge die DDR. Chruschtschow sagte später: "Es blieb uns doch gar nichts anderes übrig, als eine Mauer zu bauen." Die Berliner waren über die Amerikaner enttäuscht, Kennedy hingegen war erleichtert: "Eine Mauer ist verdammt viel besser als ein Krieg." Adenauer beurteilte die Sache erstaunlich milde, nur Willy Brandt war sehr erbost.

Frederick Kempe: Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt. Siedler Verlag, München. 662 Seiten. 29,99 Euro.