Viele wehrpflichtige Wachen an der innerdeutschen Grenze waren schockiert von der Realität dort. Die meisten fühlen sich bis heute als Opfer.

Stuttgart - Der Brief ist mit zittriger Hand verfasst: "Es gab heute Nacht wieder einen Vorfall im Nachbarbezirk", teilt der Schreiber mit. "Zur selben Zeit war ich auch auf Streife. Mir geht der Arsch auf Grundeis." Die Zeilen entstanden im Frühjahr 1969. Der Sachse Eberhard H., damals Rekrut an der Berliner Mauer, schrieb sie an einen Studienfreund. "Ständig fürchtest Du, dass es plötzlich im Unterholz knackt, man eine Spur entdeckt oder einer vor dir über die Mauer springt. Eine Scheißsituation!" Dabei zeigte SED-Mitglied H. wenig Verständnis für Flüchtlinge. Er war eher wütend auf sie. "Wer hier abhauen will, weil ihn Verheißungen des Westens locken", so notiert er abends auf seiner Stube, "denkt nicht daran, wie Du Dich fühlst. Er will bloß weg und sieht Dich als einen Feind, der ihn daran hindern will. Am Ende ballert er noch auf Dich."

 

18 Monate lebte H. in einem Nordabschnitt der Grenze mit dieser Angst. Hinzu kam der Frust, nicht darüber reden zu dürfen. Nie hätte er auf Menschen schießen können, erzählte er später oft. Doch so deutlich konnte er das keinem sagen. Alle hätten halt dieselbe Anweisung gehabt: "Grenze schützen, Durchbrüche verhindern!" Wer dabei versagte, wurde bestraft. Zehntausende von DDR-Bürgern, die als Wehrpflichtige Grenzdienst taten, teilten ähnliche Erfahrungen.

"Brutale Realität auf Leben und Tod"

Michael G. diente Anfang der 70er Jahre an der Grenze zu Bayern. Der Leipziger hielt nicht viel von seinem Land, aber er wollte studieren. Eine Rekrutenzeit an der Westgrenze konnte sich da als günstig erweisen. Und es gab handfeste Vorteile: höherer Wehrsold als etwa bei der Infanterie, häufigere Heimfahrten sowie die Aussicht, später nie zur Reserve zu müssen.

Der Alltag an der Grenze jedoch schockte G. zutiefst. Das erste Mal im Leben sah er sich einer "brutalen Realität auf Leben und Tod" ausgesetzt, "auf beiden Seiten." Die Angst, von einem Heckenschützen bei Nacht und Nebel "aus dem Fluchtweg geschossen zu werden", sei allgegenwärtig gewesen. Noch heute bebt seine Stimme, wenn er darüber spricht.

Einschüsse aus nächster Nähe

Natürlich erzählte man allen, die neu in den Postenbereich kamen, schnell von Heinz Janello und Werner Schmidt. Die beiden jungen Grenzer waren während ihres Dienstes von US-Soldaten 1952 in den Westen verschleppt und getötet worden. Einem Volkspolizeibericht zufolge, der sich auf Zeugen berief, waren die Täter "durchgeknallte GIs, frisch aus Texas gekommen" und darauf aus, "blutig Krieg und Besatzer zu spielen".

Als die Amerikaner die Särge später auf Druck der Sowjets auf die Grenzlinie stellten, zeigte sich: Schmidt war der Schädel zertrümmert worden, Janellos Körper wies Einschüsse aus nächster Nähe auf. Sechs Wochen vorher hatten US-Soldaten aus dem Jeep heraus über die grüne Grenze hinweg auf DDR-Posten gefeuert. Dabei war der 21-jährige Herbert Liebs gestorben.

Kein expliziter Schießbefehl

Auch Michael G. begleiteten stets ähnliche Albträume, gleich, ob er auf Streife ging oder sich in seiner Stube verkroch. Am Ende wollte er nur noch "wie alle Grenzer heil nach Hause kommen und nie einen Flüchtenden treffen". Von einem "Schießbefehl" sei indes nie die Rede gewesen, glaubt G. bis heute. Vor jedem Streifengang seien sie vergattert worden, und dabei verwies man stets auf das "Gesetz zum Schusswaffengebrauch im Grenzdienst der DDR". Demnach sei es verboten gewesen "auf Kinder und schwangere Frauen, auf Luftziele sowie in Richtung BRD zu schießen".

In dem Gesetz oder auch in der "Schusswaffengebrauchsbestimmung" für Grenzer findet sich kein expliziter Schießbefehl. Trafen Soldaten im Sperrgebiet auf Unbekannte, sollten sie rufen: "Halt! Grenzposten! Parole!" Blieben sie nicht stehen, war ein Warnschuss in die Luft gefordert. Danach durfte geschossen werden, "wenn andere Maßnahmen wie körperliche Gewalt gegen mitgeführte Sachen oder Tiere nicht den gewünschten Erfolg brachten". "Gezieltes Feuer auf die Beine" war erlaubt, sagt G.

197 Menschen starben an der Grenze

Zwischen den Zeilen ließ sich jedoch auch anderes ableiten. Erich Honecker, damals noch SED-Vize hinter Walter Ulbricht, forderte 1961 im Politbüro: "Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden." Der damalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann sagte: "Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren."Laut der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter sind 197 Menschen durch Waffeneinsatz, Selbstschussanlagen oder Minen an der Grenze gestorben, 78 davon seit dem Mauerbau in Berlin.

Ingolf Hermann diente in jenen Jahren als Hauptmann an der Grenze. Heute arbeitet er im Deutsch-Deutschen Grenzmuseum Mödlareuth. Hier begleitet er Besucher entlang eines authentischen Stücks Mauer zwischen Thüringen und Franken und erläutert ihnen das irrwitzige Grenzsicherungssystem der DDR - mit geharkten Kontrollstreifen, Signalzäunen unter Schwachstrom, Sperrgräben, Laufleinen für Wachhunde und Selbstschussanlagen, die 1984 wieder verschwanden. Später installierte man Schreckschussanlagen. Hermann informiert, aber diskutiert auch, etwa wenn ihn jemand pauschal für alle Mauertoten beschimpft. Die Rundgänge böten ihm die Chance, das Bild einer "schießwütigen DDR-Soldateska" zu relativieren.

Aufarbeitung erst nach 1990

Doch die meisten der früheren DDR-Grenzer wollen an das Kapitel nicht mehr erinnert werden. Zu sehr werde das nun "einseitig behandelt und unsere Männer als Monster dargestellt", erregt sich Monika M., Frau eines Grenzoffiziers. Aber bekam nicht, wer einen Flüchtling stellte, gar tötete, drei Tage Sonderurlaub? Die Frau wehrt ab: "Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich kenne keinen Fall durch meinen Mann. Aber falls doch, so war es bestimmt keine Belohnung!" Was dann? "Wissen Sie, wie sich ein 20-Jähriger fühlt, der einen Menschen auf dem Gewissen hat? Der feiert das nicht, der ist auch nicht nach drei Tagen wieder fit - den musste man praktisch aus dem Verkehr nehmen . . . "

Der Fall Weinhold zeigt, dass der Grenzdienst durchaus gefährlich war. Der 26-jährige Dresdner war selbst Rekrut in einer Panzerkompanie, als er im Dezember 1975 mit seiner Kalaschnikow und 300 Schuss Munition in den Westen türmte. Dabei erschoss er zwei Grenzer. In der Bundesrepublik wurde er zunächst dafür freigesprochen, später saß er wegen Totschlags dreieinhalb Jahre. Andererseits wurde auch kein DDR-Grenzer vor 1990 für Todesschüsse verurteilt. Diese Aufarbeitung erfolgte erst danach. Laut dem damaligen Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen gab es etwa 100.000 Ermittlungsverfahren gegen DDR-Funktionsträger. Rund 450 DDR-Soldaten wurden dabei verurteilt.

Auch die Grenzer waren Mauertote

Die ostdeutschen Grenzer, die im Kalten Krieg den Tod fanden, spielen bei dieser juristischen Aufarbeitung eine geringe Rolle. Die Berliner "Arbeitsgemeinschaft 13.  August", die das Museum Haus am Checkpoint Charlie betreibt, schätzt deren Zahl auf 200, wobei sie auch Selbstmorde oder Schusswaffenunfälle einrechnet. Offiziell starben durch fremde Hand 29 DDR-Grenzer. Die Täter waren oft westdeutsche Fluchthelfer, teils auch fahnenflüchtige Sowjetsoldaten und einmal auch der BGS. Ostdeutsche Grenzveteranen beklagen, dass in mindesten 12 Fällen Täter, die nach Westdeutschland geflüchtet waren oder von dort kamen, nicht belangt wurden. Fünf Täter hat man verurteilt.

In der DDR galten diese Opfer als Helden. Man benannte Schulen, Stadien oder Jugendclubs nach ihnen. Doch 1990 war damit zumeist Schluss. Eine Berghütte in der Sächsischen Schweiz, die bis dahin nach Janello hieß, benannte sich um, machte das aber 1996 wieder rückgängig. Auch einzelne Straßen im Osten heißen heute noch nach getöteten DDR-Grenzern, vor allem in Berlin. Hier und da erinnern öffentliche Gedenktafeln an sie. "Auch sie waren doch Mauertote", sagt Michael G.