Der Journalismus verändert sich. Neben die großen Reportageschreiber treten die Datenwühler, die neue Darstellungsformen nutzen. Doch die Zukunft der Zunft liegt auch in einer Besinnung auf alte Tugenden, meint der StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Im deutschsprachigen Raum werden jedes Jahr 605 Journalistenpreise vergeben. „journalistenpreise.de – Das Portal für preisgekrönten Journalismus“ listet sie alle auf: Ausgezeichnet werden Redakteure für reine Zweckprosa wie für journalistische Glanzstücke. Auf der einen Seite des Spektrums sind der Wirtschaftsförderung des Kreises Kleve die besten Berichte über einen „Virtuellen Gewerbeflächenpool“ immerhin 10 000 Euro wert, der Bundesverband Kraft-Wärme-Kopplung hat den B.KWK-Journalistenpreis ausgeschrieben für eine „herausragende journalistische Arbeit, die die Rolle der Kraft-Wärme-Kopplung . . . überzeugend thematisiert“. Dem Wahren, Schönen, Guten verpflichtet sind auf der anderen Seite etwa der Henri-Nannen-Preis oder der Theodor-Wolff-Preis der deutschen Tageszeitungen, der in diesem Jahr zum 50. Mal vergeben wird.

 

605 Journalistenpreise in einer Zeit, in der „Krise“ beim Begriff Journalismus gleich tautologisch mitgedacht wird? Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn trotz des Booms Sozialer Netzwerke, trotz der in den vergangenen Jahren vervielfachten Informationsmöglichkeiten genießen die klassischen Informationsmedien immer noch – alle Umfragen belegen das – die höchste Glaubwürdigkeit beim Publikum. Davon will der Bundesverband Kraft-Wärme-Kopplung profitieren – und das Publikum lechzt nach vertrauenswürdigen Abbildungen der Realität.

Das schriftstellerische Glanzstück steht im Mittelpunkt

Das größte Augenmerk genießt dabei immer das schriftstellerische Glanzstück, vorzugsweise die große Reportage oder der Essay. Da gibt es Sternstunden des Journalismus zu entdecken. Mit Preisen bedacht wurden in den vergangenen Jahren etwa ein umfangreiches Dossier, in dem ein Acht-Personen-Team des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ den Beginn der Weltfinanzkrise faktenreich und minutiös aufgearbeitet hat, eine schrullig-intelligente Betrachtung des „Zeit“-Autors Harald Martenstein zum Wesen des Mainstreams oder die klassische, höchst persönliche Reportage des StZ-Redakteurs Frank Buchmeier über die ganz besondere Beziehung einer resoluten Stuttgarter Bürgerin zu einem Obdachlosen. Der Leser lacht oder weint, erfährt etwas, das er nicht wusste oder so noch nie gesehen hat.

Guter Journalismus hängt nicht davon ab, ob er auf einem Stück Papier gedruckt, über Radiowellen versendet oder digital verbreitet wird. Alle Medien brauchen Glanzlichter, die im Falle der Zeitung ein einfaches Presseerzeugnis zur Autorenzeitung veredeln. Doch Journalismus ist mehr als das, und gute Zeitungen sind mehr als eine Ansammlung von guten (oder im Idealfall sehr guten) Textbeiträgen. „Ein schnelles Auto“, hieß es 1909 im Manifest des italienischen Futurismus, sei schöner anzusehen als die Nike von Samothrake. Eine brillante Grafik kann einen komplexen Sachverhalt wie die Energiewende oder die Landung der Marssonde Curiosity mitunter besser darstellen als eine textliche Analyse. Einer der am meisten Erfolg versprechenden Pfade des Journalismus ist daher der Datenjournalismus – die Verknüpfung, Aufbereitung und Darstellung unterschiedlicher Datenquellen und immer größerer Datenmengen. Der Charme liegt dabei für den Leser – ob in der Zeitung oder im Online-Angebot – im leichten Zugang zu vielen, oft überraschenden Fakten. Augenfällig wird das bereits im Sportjournalismus. Die Laufwege jedes Bundesliga-Fußballers in einem Spiel sind inzwischen verfügbar und können als Grafik eine Reportage sinnvoll ergänzen. Das verschafft auch Erkenntnisse, etwa dass ein Bundesligatorhüter heute mit knapp sechs Kilometern pro Spiel wohl größere Strecken zurücklegt als der Torjäger Gerd Müller in den siebziger Jahren.

Datenjournalismus wird die Medienzukunft prägen

In seiner Verbindung von Print- und Onlineaufbereitung steckt der Datenjournalismus noch in den Kinderschuhen. Doch er wird das Berufsbild des Journalisten verändern. Während bis heute der brillante Autor oder der investigative Rechercheur den Idealtypus des Journalisten darstellt, werden künftig auch die Wühler mit einem Gespür für Daten und deren Aufbereitung ihren Platz in den Redaktionen finden. Das gilt umso mehr, als Zeitungen künftig nicht mehr ohne digitale Verbreitungskanäle denkbar sind, die zusätzliche journalistische Angebote beinhalten.

Die klassische Zeitung muss auch künftig das Spektrum des Zeitgeschehens abbilden, doch ihre Rolle wandelt sich. In einer Zeit, in der praktisch jede Nachricht jederzeit an jedem Ort konsumiert werden kann, gewinnt die Auswahl der Beiträge, die Einordnung und Analyse an Bedeutung. Der Publizist Siegfried Geißenhammer prägte dafür einst den Satz: „Journalisten erzählen, was passiert ist. Gute Journalisten sagen auch, was es bedeutet.“ Um die Geschichte hinter der Geschichte zu erzählen, werden die klassischen Medien weiterhin gebraucht, und dafür müssen sie sich auch mehr Zeit lassen als Online-Angebote, die viel schneller reagieren können.

Die Nähe zum Leser wird wachsen

Zudem werden sich die Medien stärker in ihrer Themenauswahl differenzieren. Gerade klassische Lokal- und Regionalzeitungen haben ihre Stärke in der Nähe zum Leser. Diese gilt es auszubauen, und zwar sowohl durch engeren Kontakt als auch durch eine Berichterstattung, die öfter direkt vor der Haustür des Lesers spielt.

Entscheidend ist jedoch – bei gleich welchem Medium, bei gleich welchem Thema – das Prinzip Journalismus: die kundige, vorurteilsfreie und unabhängige, also nicht interessengeleitete Auswahl und Einordnung der Beiträge. Bei den Enthüllungen der Plattform Wikileaks waren es Journalisten, unter anderem des „Spiegel“, die aus den vielen Tausend Dokumenten die Relevanten destillierten. Und bei vielen Blogs im Internet ist unklar, ob der Autor nicht bestimmte Interessen verfolgt. Selbst der neuen Medien gewiss aufgeschlossene Apple-Gründer Steve Jobs meint in seiner Biografie: „Wir können uns bei Nachrichten ja nicht auf Blogger verlassen. Wir brauchen richtige Berichterstattung und redaktionelle Übersicht mehr denn je.“

Entscheidend ist und bleibt die Glaubwürdigkeit

Es ist bereits eine journalistische Leistung, in der Kakofonie um die Eurokrise die Zusammenhänge zutreffend zu erklären und Vor- und Nachteile der Hilfspakete für Griechenland darzustellen. Doch wichtig ist es eben auch, den zweifellos hohen Kosten der Eurorettung die Ambitionen der EU gegenüberzustellen, auch künftig in der Welt eine gewichtige Rolle zu spielen.

Dabei gilt es, auch im Interesse der Glaubwürdigkeit eigene Probleme und Grenzen offenzulegen. Wer ehrlich ist, räumt ein, dass es etwa in der Eurokrise und nicht nur dort keine letzten Wahrheiten zu schildern gibt, sondern dass sich alle – Politiker, Vertreter der Wirtschaft und eben auch Journalisten – auf unbekanntem Terrain bewegen. Journalisten müssen ihre Meinung gut begründen, aber sie sind per se nicht schlauer als die Akteure selbst. Für den Journalisten kann das nur heißen, dass er zwar verbissen an dem Thema arbeitet, aber Distanz zu allen Seiten hält und andere Meinungen zulassen muss. Oder, wie es Theodor Wolff, Chefredakteur des heute nicht mehr existierenden „Berliner Tagblatts“ sagte: „Über jeder Wahrheit schwebt ein letztes Vielleicht.“ Die Zukunft des Journalismus liegt auch in Besinnung auf solche Tugenden der Vergangenheit.