Erfunden haben ihn die Amerikaner. Importiert die Holländer. Aber perfektioniert die Schwaben. In Stuttgart eröffnete in der Blumenstraße vor 50 Jahren der erste Weltladen in Deutschland. Eine Spurensuche.

In Chile und Griechenland putschen die Generäle, in den USA wird der Watergate-Skandal aufgedeckt, im Nahen Osten greifen Ägypten und Syrien Israel an, der Jom-Kippur-Krieg beginnt, in Vietnam wird immer noch gekämpft, der Ölpreis steigt und steigt, sonntags müssen Autos und Laster stehen bleiben, der spanische Ministerpräsident Luis Carrero Blanco wird von der Eta getötet, die inhaftierten RAF-Mitglieder gehen in den Hungerstreik – und in der Blumenstraße in Stuttgart eröffnet der erste Weltladen. Das war alles 1973.

 

Der Auslöser: Hungertod in Afrika Von wegen gute alte Zeit. Die Weltenläufte waren aufgeregter als heute, überall auf dem Globus brannte es, doch erfuhr man das nicht in Echtzeit. Nachrichten waren lange unterwegs, doch begann die Welt zusammenzurücken. Elvis Presleys Konzert aus Hawaii war die erste weltweit per Satellit übertragene Fernsehsendung, der Krieg in Vietnam war ein Medienereignis. Und bewegte die Menschen wie wenige Jahre zuvor die Hungersnot in Biafra. Die Igbo hatten ihre Unabhängigkeit von Nigeria erklärt, der Zentralstaat reagierte mit Gewalt. Geschätzt bis zu drei Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Viele verhungerten. Erstmals bewegte ein Ereignis in Afrika die Deutschen. Der „Stern“ titelte damals: „Bilder klagen an. Die verhungernden Kinder von Biafra“. Insbesondere die Kirchen engagierten sich. Auch der junge Albrecht Oethinger und seine Freunde in Tailfingen im Gäu entsetzte die Hungersnot, sie informierten sich, sie halfen. Und kamen in Kontakt mit dem Weltmarkt-Laden in Stuttgart.

Kaffee aus dem Kleiderschrank Der hatte seine Wurzeln in Backnang. Dort wollten Margret und Frieder Müller sich nicht begnügen zu spenden. Sie wollten „eine Welt schaffen, die tragbar, sinnvoll und gerecht ist“. Auf Augenhöhe. Über einen Freund, der als Entwicklungshelfer in Bangladesch war, bezogen sie Kleidung, Lebensmittel und Spielzeug aus Bangladesch und Indien. Sie räumten im Schlafzimmer einen Schrank leer, der diente als Lager, verkauft wurde im Wohnzimmer.

Zwei Jahre lang ging das so, dann kamen die Müllers in Kontakt mit Annemarie Feldtkeller, Berthold Burkhardt und Traude Rebmann. Man fand die Räume an der Blumenstraße in der Innenstadt, gründete die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt und eröffnete 1973 den Weltmarkt-Laden. Das war nicht weit weg vom amerikanischen Konsulat und so, erinnert sich Oethinger, traf man sich nach den Demos und Protesten gegen den Vietnamkrieg und der Rolle der CIA bei den Umstürzen in Südamerika in der Blumenstraße zum Diskutieren, zum Pläne-Schmieden, zum Politisieren – und nahm noch was mit.

Ärger mit der IHK Die Waren kamen zu Beginn aus Holland; dort hatte 1969 der erste Weltladen in Europa eröffnet. Elf Jahre, nachdem in den USA der erste „Fair Trade Shop“ entstanden war. 1946 hatten dort Mennoniten eine Organisation für fairen Handel gegründet, anfangs Handarbeiten aus Südamerika aus dem Kofferraum eines Autos heraus verkauft. Überhaupt Südamerika, das stand auch in Stuttgart vor allem wegen der zahlreichen Befreiungsbewegungen im Fokus. „Ein Indiocafé“, das seien die Anfänge gewesen, so geht die Sage. Zahlreiche Kontakte hatten die Ehrenamtlichen, vor allem nach Südamerika. „Meist war ein ausgedehnter Briefwechsel notwendig, und die Lieferungen mussten über den Zoll abgewickelt werden.“ Geöffnet war nachmittags und Samstagvormittag. Und erst mal gab es Ärger mit der IHK, die fand Weltmarkt zu „großsprecherisch und überzogen“. Doch man sei stur geblieben „und der Name Weltmarkt wurde unser Logo“, hat sich Gründungsmitglied Bertold Burkhardt zum 40-Jahr-Jubiläum erinnert.

Mehr als nur ein Laden Der Weltmarkt sollte nicht nur ein etwas anderer Laden sein. Man wollte das Handelssystem ändern. „Die Produzenten in den Entwicklungsländern sollten Preise für ihre Waren bekommen, von denen die ganze Familie menschenwürdig leben konnte“, formulierte Feldtkeller den Anspruch. Deshalb schoben die Stuttgarter die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Dritte-Welt-Läden an. Und die Gründung der Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt, kurz Gepa. Deren Lager war zunächst im Keller der Blumenstraße. Oethinger wurde später Regionalleiter im Südwesten. Heute können die acht Weltläden in Stuttgart und die 900 anderen überall in Deutschland aus 80 bis 100 zertifizierten Lieferanten auswählen. In den Anfängen gab es Kaffee, aber auch Alpaka-Pullover aus Bolivien und Peru. Die trugen die ersten Grünen später im Bundestag als Symbol des Anderssein, der Provokation und der Weltoffenheit. Männer strickten sie mit Fahrradspeichen statt Stricknadeln. Aber die Ärmel waren zu eng. Da musste man feinfühlig auf die europäische Oberarmweite hinweisen. Es gab Blusen aus Guatemala, Hocker aus Ghana, Stabschattenfiguren aus Indonesien, Röcke aus Südafrika. Und Bänder und Decken aus Ecuador. Die Decken wurden dort in einem Entwicklungsprojekt gewebt und für eine Katastrophe wie etwa ein Erdbeben gelagert. Weil die Lager überliefen, bestellte man in Stuttgart einen Packen. Aus Ecuador kam die sorgenvolle Frage, ob in Stuttgart etwas Schlimmes passiert sei, wenn man so viele Decken brauche.

Stricken mit Speichen

Mittlerweile gibt es zig Siegel, die davon künden, dieses Produkt könne man guten Gewissens kaufen. Saskia Rundau, Geschäftsführerin des Weltladens an der Planie, sagt dazu: „Jedes Fair-Trade-Produkt, das verkauft wird, ist besser als kein Fair-Trade-Produkt.“ Und es ist schön, wenn die Kunden fair gehandelte Bananen, Schokolade, Bananen, Kosmetik, Kaffee, Tee – immer noch die Klassiker –, kaufen, „aber das Ziel der Weltladen-Bewegung ist es ja, den Handel insgesamt zu reformieren“. Deshalb nervt man ja auch seit Jahrzehnten die Politik, das Lieferkettengesetz ist zu einem gut Teil dem Bohren des Dachverbands der Weltläden zu verdanken. Ähnliches hat man nun auch im EU-Parlament vorangebracht.

Weniger Umsatz wegen Corona Doch Corona hat auch den Weltläden wehgetan. Saskia Rundau sagt, der Umsatz für den Laden in der Planie, wo man 2014 hingezogen ist, und jener in Bad Cannstatt habe 2022 rund 620 000 Euro betragen. 100 000 weniger als vor der Pandemie. Die beiden Läden werden von einer gemeinnützigen GmbH getragen. Die anderen Läden in Stuttgart werden von Vereinen organisiert. Und die haben die gleichen Probleme wie andere Vereine auch, erzählt Peter Hille aus dem Stuttgarter Osten. Die Ehrenamtlichen seien meist zwischen 50 und 60. Auch die Kunden sind schon reiferen Alters. Und Familien. Einwanderer oder Menschen mit Wurzeln im Ausland kommen allerdings kaum. Was in Stuttgart schon mal die Hälfte der Einwohner ausmacht. Das allein zeigt schon, die Welt ist kleiner geworden in den vergangenen 50 Jahren. Auch besser? Daran arbeiten die Weltläden unverdrossen.