Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic stellt sich in London selbst aus: 512 Stunden lang. Was daraus entsteht, ist offen.
Stuttgart - Welches Publikum denn das schwierigste sei, fragt ein britischer Kollege. „Am schwierigsten sind die Japaner“, sagt Marina Abramovic. „Die sind so daran gewöhnt, Künstler als Respektspersonen wahrzunehmen, dass man ihnen sagen kann: Spring aus dem Fenster, und sie machen es.“ Die Deutschen würden immer alles zu Tode diskutieren, und die Engländer – tja, die seien zynisch und tränken am Wochenende zu viel. Wenn man Marina Abramovic’ Werk nur vom Hörensagen kennt, dann stellt man sich eine strenge, vielleicht sogar etwas Angst einflößende, jedenfalls eher wortkarge Person vor, bei der es immer um die letzten Dinge geht. Auch nach mehr als zehn Jahren in New York spricht sie mit schwerem serbokroatischem Akzent, das verscheucht den Eindruck der Strenge erst einmal nicht. Aber die Frau, die sich in einem stickigen Saal der Londoner Serpentine Gallery den Fragen der Presse stellt, ist weder arrogant noch unnahbar.
Das dürfe sie auch nicht sein, sie müsse im Gegenteil „viel Demut“ mitbringen für das Projekt, das sie bis zum 25. August in dem kleinen Pavillongebäude in Kensington Gardens zeigen wird. „512 Hours“ heißt es, und es besteht aus der Künstlerin und der Hoffnung auf viel Kollaborationsbereitschaft seitens des zynischen Londoner Publikums. Insgesamt 512 Stunden lang, daher der Titel, wird Marina Abramovicć – was genau tun? Das wisse sie selbst noch nicht genau, sagt die Künstlerin. Als Vorgeschmack greift sie sich mehr oder weniger willige Reporter aus dem Pulk, fasst sie bei der Hand, führt sie durch die Räume und lässt sie schließlich, mit dem Gesicht zur Wand, stehen. Eine Kollegin wird später sagen, sie habe einen „Energiestrom“ durch ihren Arm fließen gespürt, als Abramovic sie anfasste. Genau das erhofft sich die Künstlerin. Sie hat sich, wie sie sagt, ausgiebig mit der Energietheorie des Elektrizitäts-Pioniers Nicola Tesla befasst, und mit „Energieströmen“, die Naturvölker miteinander austauschen. Etwas Verbindendes, Heilendes soll das haben.
Abramovic’ Kunst hat etwas Messianisches
Bisher waren eher Belastung und Versehrung des menschlichen Körpers das auffälligste Merkmal der Kunst Marina Abramovic’. Man denke an die Aktion, für die sie sich in einen Stern aus brennendem Sägemehl legte und fast erstickt wäre. Oder an „Luminosity“, eine Arbeit, für die sich die Künstlerin 1997 in Berlin nackt auf einem in zwei Meter Höhe an der Wand befestigten Fahrradsitz niederließ, Arme und Beine abgespreizt wie in einer Sankt-Andreas-Kreuzigung. Oder an „The Artist is present“, ihre bislang berühmteste Aktion, in deren Verlauf sie 2010 bei einer großen Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art 736 Stunden lang bewegungslos auf einem Stuhl verharrte. Ihr gegenüber ließen sich Besucher nieder, die geduldig in einer Schlange gewartet hatten. Abramovic’ starres Gesicht entlockte ihnen vom Weinen bis zum Gelächter sämtliche menschlichen Emotionen. Es war dieser New Yorker Marathon, der sie von einer durchaus angesehenen Doyenne der Aktionskunst zu einem Superstar des globalen Kunstbetriebs beförderte.
Als eine Art Fortsetzung von „The Artist is present“ ist „512 Hours“ angekündigt worden. Mit dem Unterschied, dass Marina Abramovic diesmal nicht statuesk, sondern aktiv sein will. Und dass sie sich diesmal gar keiner Hilfsmittel bedienen will, nicht mal eines Stuhls. Nun ist es nicht so, als habe die 67-Jährige noch nie allein mit ihrem Körper gearbeitet. Sie lebte mehr als zwei Jahrzehnte lang in einer Beziehung mit dem deutschen Performance-Künstler Ulay. Als sie sich 1988 voneinander trennten, war natürlich auch das eine Performance. Beide bewegten sich 90 Tage lang auf der Chinesischen Mauer aufeinander zu, um sich schließlich zu treffen und zu verabschieden. Aber in London geht es, wenn man das richtig versteht, nicht um Trennung, sondern ums – womöglich fruchtbare – Aufeinandertreffen. Sie wünsche sich, dass Besucher in den kommenden zwei Monaten immer wieder zu ihr kämen, sich kennenlernten, vielleicht gemeinsame Essen veranstalteten. Das hat fast schon etwas Messianisches: Wo zwei oder drei in Marinas Namen versammelt sind, da ist sie mitten unter ihnen.
Um Störenfriede kümmern sich vierzig Wächter
Während „512“ wird so ziemlich alles erlaubt sein, auch ausziehen dürfen sich die Besucher, wenn sie möchten – schließlich sei sie selbst ihr ganzes Leben lang nackt gewesen, sagt Abramovic. Nur mit Betrunkenen will sie sich nicht herumschlagen. Vierzig „Wächter“, die meisten recht schmächtige Jünglinge, sind eigens trainiert worden, sich – wie auch immer – um solche Störenfriede zu kümmern. Aber jede andere Energie sei willkommen, auch negative. Die werde sie schon in positive umwandeln, glaubt die Künstlerin. Wie die Aktion verlaufe, hänge in jedem Falle sehr vom Verhalten der Besucher ab.
Letztlich gehe es, das wird sie nicht müde zu betonen, um: nichts. Das heiße allerdings nicht, dass sie nichts tue, sie arbeite vielmehr acht Stunden am Tag. Damit reagiert sie auch auf den offenen Brief einer Gruppe amerikanischer Kuratoren an die Serpentine, die beklagen, Abramovic habe nie den Einfluss ihrer Kollegin Mary Ellen Carroll erwähnt, die doch schon seit Jahren mit dem Konzept des Nichts arbeite. Tatsächlich ist das Nichts, von dem die Serbin spricht, ein anderes, denn sie füllt es ja durch ihre eigene Präsenz und die ihrer Besucher: „Das Publikum vollendet das Werk“, sagt sie. Aber im Zentrum steht die Marke Marina, eine zweifellos charismatische, im persönlichen Umgang warme und freundliche Frau, die es geschafft hat, durch ihre reine Gegenwart ein riesiges Interesse zu generieren. Ob dieses Interesse gerechtfertigt ist, ob es sich bei „512“ tatsächlich um ein Kunstereignis oder doch eher um esoterischen Prominentenkult handelt, das muss jeder Serpentine-Besucher für sich selbst entscheiden.