Stuttgart - Mit drei Bühnenpremieren meldet sich das Stuttgarter Ballett zurück. Die Aufführungen fügen sich zu Festwochen, mit denen die Kompanie ihren 60. Geburtstag feiert. Ihr Intendant Tamas Detrich hat den Lockdown genutzt, um neue Projekte zu entwickeln.
Herr Detrich, in seiner 60-jährigen Geschichte hatte das Stuttgarter Ballett nicht nur Höhenflüge, sondern musste auch Tiefpunkte überwinden wie den plötzlichen Tod John Crankos. In der Coronakrise war neu, dass es keine Aufführungen gab. Hätten Sie jemals gedacht, dass diese schwierige Zeit Publikum und Kompanie entfremden könnte?
Am Anfang überhaupt nicht. Da war ich zuversichtlich, dass das Publikum zurückkommt, sobald wir wieder auf der Bühne sind. Schließlich hatten wir im Herbst noch einen unglaublichen Ansturm erlebt. Als ich jetzt beim Vorverkauf für unseren Neustart bemerkt habe, dass die Vorstellungen nicht sofort ausverkauft sind, war ich nicht unbedingt schockiert, aber doch überrascht.
Woran liegt die Zurückhaltung des Publikums?
Viele wollen abwarten, bis sie zum zweiten Mal geimpft sind. Die Zuschauer sind vorsichtiger geworden. Glücklicherweise haben wir das Modellprojekt mit der Schachbrett-Sitzanordnung; nun müssen wir vermitteln, wie sicher es ist. Vergangene Woche haben uns die begleitenden Wissenschaftler und ein bundesweit einmaliger Aerosoltest das bescheinigt. Die Vorstellungen mit unseren nächsten Premieren „Höhepunkte“ und „Beethoven-Ballette“ füllen sich zum Glück gut, das stimmt mich zuversichtlich. Die Menschen sind doch hungrig nach Kultur.
Sie haben einen Ballett-Freundeskreis gegründet. Ist das eine Reaktion darauf, dass Sie die Beziehung zum Publikum neu festigen wollen?
Ja, ich will eine engere Bindung, aber der Freundeskreis war schon vor Corona geplant. Vor allem denjenigen wollte ich etwas anbieten, die eine besondere Begegnung mit dem Ballett haben möchten. Die neue Cranko-Schule bietet sich für solche Veranstaltungen perfekt an. Und mit dem von Thomas Lempertz betreuten Jungen Freundeskreis wollen wir eine neue Generation ansprechen.
Im Vergleich mit anderen Kompanien: Wie gut ist das Stuttgarter Ballett durch die Krise gekommen?
So gut wie wenige andere! Wir haben fast alle Projekte realisieren und sogar per Livestream dem Publikum in Stuttgart und aller Welt anbieten können. Unser Glück war, dass wir von den Kostümen bis zum Licht vieles hier im Haus realisieren konnten und nicht auf Gäste angewiesen waren. Vor allem habe ich einen Schatz an talentierten Choreografen unter den Tänzern, die auf die jeweiligen Regeln, was Abstand und Personenzahl auf der Bühne anging, reagieren konnten. Viele haben in dieser Zeit eine Chance erhalten.
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Werden Sie weiter darauf bauen?
Wenn ich kann, dann unbedingt. Bei einem hausgemachten Uraufführungsabend wie „Creations“ ist es mir möglich, darauf hinzuwirken.
Das Ende der aktuellen Spielzeit ist auch ein Fest zum 60. Geburtstag der Kompanie: Was zeichnet für Sie das Stuttgarter Ballett im Konzert der großen Kompanien aus?
Ihr kreatives Potenzial und dass sie Weltklasse-Choreografen wie William Forsythe hervorgebracht hat, die bis heute eng mit ihr verbunden sind. Sein Ballett „Blake Works I“, für die Pariser Oper entstanden, hat er hier überarbeitet, weil es ihm nicht anspruchsvoll genug für das Potenzial der Stuttgarter Tänzer erschien. Ballettfans reisen von weit an, um solche Bühnenpersönlichkeiten zu erleben. Ich selbst habe Crankos Ballette an vielen Orten einstudiert und weiß: Die Stuttgarter Tänzer durchdringen die Stücke in einer besonderen Intensität.
Woran liegt das?
Das hat sicherlich mit der von John Cranko begründeten dramatischen Tradition zu tun. Die Absolventen der Cranko-Schule, und das ist ja die Mehrzahl in der Kompanie, wachsen von Beginn an damit auf. Auch deshalb will ich eine neue Tradition begründen, um die Schule weiterhin in unsere Vorstellungen einzubinden: mit einem neuen „Nussknacker“ für die Weihnachtszeit. Edward Clug macht die Choreografie, Jürgen Rose die Ausstattung. Premiere ist allerdings erst in ein paar Jahren.
Sie selbst waren lange Tänzer des Stuttgarter Balletts. Was haben Sie in dieser Zeit gelernt, das Ihnen nun als Intendant hilft?
Ich habe viel gelernt von Reid Anderson, aber auch von Marcia Haydée und Richard Cragun, der wie ein großer Bruder für mich war. Wie diese Superstars ganz offen mit mir als junger Tänzer umgegangen sind, das will ich ebenso pflegen. Genauso will ich mich um unser Ensemble kümmern und schnell reagieren, wenn ich sehe, dass jemand ein Talent hat, das gefördert werden kann.
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Hatten Sie eine Lieblingsrolle als Tänzer?
Romeo, als ich jung war, dann Onegin. Später war es eine große Bereicherung für mich, in Glen Tetleys „Arena“ zu tanzen. Viele haben in mir eher den Prinzentyp gesehen, aber ich fand Tetleys anspruchsvolle, expressive und schwierige Bewegungssprache einfach toll.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Welches Stück würden Sie sich ins Repertoire holen?
Oh, das sind viele. Nur ein Beispiel: John Crankos Ballett „Spuren“ möchte ich gern rekonstruieren. Es war sein letztes Stück und handelt von einer Frau, die einem autoritären Regime entkommen ist. Für ein solches Projekt muss es natürlich einen passenden Anlass geben wie den fünfzigsten Todestag Crankos in zwei Jahren.
Und wenn Sie als Intendant einen Wunsch an Stadt und Land frei hätten?
Mehr Tänzer, dann könnte ich auch mehr Vorstellungen machen. Momentan arbeiten wir am Limit. Zum Glück unterstützen die Ferry-Porsche- und Birgit-Keil-Stiftungen ein neues Programm, mit dem wir acht Eleven beschäftigen können; das hilft uns enorm und gibt den jungen Tänzern eine tolle Chance.
Ein ganz anderes Jubiläum: Das Gebiet vor dem Opernhaus war Ausgangspunkt der Krawallnacht vor einem Jahr. Ursache der Proteste war unter anderen, dass junge Menschen sich ausgeschlossen fühlen. Gibt es Überlegungen, ob der Tanz für mehr Teilhabe sorgen könnte?
Seit vielen Jahren arbeiten wir im Rahmen von „Ballet Jung“ an Brennpunktschulen in Baden-Württemberg, neuerdings zusätzlich mit Integrationsklassen. Mit Tanz lässt sich viel vermitteln, wofür man vielleicht noch nicht die Worte hat! Außerdem sind die Staatstheater gerade mit Hochdruck dabei, das Schauspielhaus zu öffnen. Die Menschen sollen sehen, dass unser Haus ein offener Ort ist.
Nach der Trennung von Marco Goecke haben sich viele über seine Rückkehr für „New/Works“ gefreut. Was hat Sie zum Umdenken bewogen?
Ich musste nicht umdenken. Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich Marco sehr schätze und mir vorstellen könne, dass er wieder mit uns arbeitet. Ich habe immer daran geglaubt, dass er zurückkommt, wenn der Anlass passt – das 60-Jahr-Jubiläum war der richtige Moment, und bestimmt wird es weitere geben. Auch Christian Spuck sagte, dass er jederzeit gern zurückkehre. Im Herzen bleibt bei allen Ehemaligen eine große Verbundenheit mit der Stuttgarter Ballettfamilie. Das ist das größte Lob für diese Kompanie.
Das Stuttgarter Ballett tanzt
Intendant 1959 in New York geboren, beendete Tamas Detrich seine Tanzausbildung 1977 an der Cranko-Schule. Im Anschluss wurde er vom Stuttgarter Ballett übernommen, 1981 zum Ersten Solisten befördert und 1998 zum Kammertänzer ernannt. Detrich beendete seine aktive Karriere 2002 und arbeitete als Ballettmeister für die Kompanie. 2009 wurde er ihr stellvertretender Intendant, 2018 übernahm er ihre Leitung.
Premieren Wegen des undichten Opernhaus-Dachs muss die Premiere von „Höhepunkte“ von Mittwoch, 30. Juni, auf Samstag, 3. Juli, verschoben werden. Der Ballettabend bietet im Opernhaus als Novitäten Roland Petits „Le jeune homme et la mort“ und Jirí Kyliáns „Petite Mort“; weitere Termine am 8. und 10. sowie vom 21. bis 23. Juli. Am 14. Juli folgt die Premiere der „Beethoven-Ballette“.