60 Jahre Stuttgarter Ballett Reid Anderson erinnert sich: Wie Eiskunstlauf inspirierte

Eine Fotografie aus dem Archiv von Hannes und Gundel Kilian inspirierte Reid Anderson Erinnerungen. Sie zeigt John Cranko bei der Arbeit im Stuttgarter Ballettsaal, Reid Anderson ist links im Bild zu sehen. Foto: Hannes Kilian

60 Jahre Stuttgarter Ballettwunder! Wir haben im Archiv eine Interview-Serie mit Weggefährten John Crankos gefunden – unter den Gesprächspartnern war auch der langjährige Stuttgarter Intendant Reid Anderson.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - „Manchmal muss ich mich kneifen: War das real?“ stand als Überschrift über dem Artikel, für den wir im Sommer 2007 mit dem damaligen Stuttgarter Ballettintendanten Reid Anderson gesprochen hatten. Ausgangspunkt war eine Fotografie aus dem Archiv von Hannes und Gundel Kilian. Sie zeigt eine typische Situation im Ballettsaal.

 

Reid Anderson blickt zurück

„Dieses Foto ist während der Arbeit am 3. Satz von „Initialen“ entstanden“, erinnert sich Reid Anderson. „Es zeigt eine ganz typische Situation im Ballettsaal mit John Cranko, meistens herrschte eine sehr heitere, entspannte Atmosphäre. Er war einer der Choreografen, die nicht mit einem fertigen Stück im Kopf den Ballettsaal betraten. Er hatte keinen konkreten Entwurf, aber viele Ideen, meine kleinen Götter nannte er sie immer, und er kannte die Musik auswendig. Wenn er spät in der Nacht aus dem Theater nach Hause kam und nicht schlafen konnte - und das war bei ihm oft der Fall -, dann spielte er Schallplatten. Im zweiten Satz von Brahms Klavierkonzert gab es eine barockartige Stelle, die ihm Probleme bereitete. Wieder und immer wieder hat er nachts diese Stelle gehört, bis er endlich die Lösung für Susanne Hankes „Initialen“-Variation gefunden hatte.

Die Dinge entstanden gemeinsam

„Kinder, ich habe mir das genau angehört. Du nimmst sie hoch“, gab John zum Beispiel Anweisungen für eine Hebung. „Dann geht sie um deinen Kopf herum, geht in einer Windung herunter und landet zwischen deinen Beinen durch.“ Er gab uns Tänzern oft einen ganz konkreten Rahmen für unsere Auftritte, die Schritte selbst fanden wir im Team. Die Ideen kamen von John, aber das Tollste war: Wir durften sie füllen und hatten immer den Eindruck, dass die Dinge gemeinsam entstanden sind, dass sie mit uns zu tun hatten. Das Verhältnis der Tänzer zu ihm war nie ehrfürchtig. Der Arbeitsprozess war enorm interessant – jeder fühlte sich wichtig dabei. Für „Brouillards“ etwa verwandelte Jirí Kylián die simple Anweisung „jetzt brauche ich eine Bewegung nach oben“ in eine wunderschöne, komplizierte Hebung, nach der seine Partnerin in seinem Schoß landete. John war begeistert, fügte eine Beugung nach hinten hinzu – seither hieß dieser Part „der Jirí-Schritt“.

Marcia Haydée war absolut furchtlos

John hatte kein klares Bild davon, was an einem bestimmten Tag im Ballettsaal entstehen sollte. Aber er wusste immer genau, was er haben wollte und was nicht. Dann konnte er auch sehr stur sein und an ein und derselben Stelle zwei Stunden feilen, bis sie genau so war, wie er sie wollte. Im Normalfall aber war er wahnsinnig schnell. Mich hat seine Art zu arbeiten fasziniert. Im Februar 1969 kam ich frisch von der Ballettschule nach Stuttgart - und war plötzlich mittendrin in einem total kreativen Prozess, als hier „Der Widerspenstigen Zähmung“ entstand. Es war toll: Ich konnte als junger Tänzer einfach dabeisitzen und zuschauen, das hat John nicht gestört. Ich saß neben ihm, als er einen der Pas de deux für Richard Cragun und Marcia Haydée gestellt hat. Und es war beeindruckend, wie absolut furchtlos Marcia war, sich in eine Hebung nach der anderen stürzte. Zu der Zeit lief im Fernsehen viel Eiskunstlauf. John konnte nicht genug davon kriegen und hat viele Figuren eingebaut. Als 19-Jähriger war ich sprachlos, wie viel Vertrauen zwischen den Beteiligten war. Marcia hat gegeben, gegeben, gegeben. Es schien ein unsichtbarer Draht zwischen den beiden. Er hatte kaum etwas ausgesprochen, da hatte sie es schon umgesetzt.

Nach dem Schlussvorhang sprang das Publikum auf

Bei der Premiere im April war ich dann schon in verschiedenen Szenen dabei. Dass ich frisch aus der Schule gleich so etwastanzen durfte – John hatte enormes Vertrauen in Tänzer. Nie in meinem Leben werde ich diesen Moment nach der Aufführung vergessen, als das Publikum wie ein Tier zu einem Urschrei anhob und eine halbe Stunde applaudierte. Manchmal muss ich mich wirklich kneifen: Die ersten Monate meiner Bühnenkarriere, waren die überhaupt real? Die erste Aufführung von „Onegin“ an der Metropolitain Opera etwa, die ich aus dem Publikum miterlebte. Als sich der Vorhang über Marcias letzte Pose gleich einer Guillotine senkte, erhoben sich die Menschen wie auf ein Kommando hin. Das war eines der großen Ereignisse in meinem Leben.

Als Ballettdirektor habe ich viel von John Cranko gelernt. Tänzer sind vor allem Menschen, man muss ihnen ihre Ängste nehmen und sie wissen lassen, dass jemand hinter ihnen steht. Wenn jemand mal nicht das gebracht hat, was in ihm steckt, dann braucht er einen Direktor, der ihn aufbaut. Nach meinem Debüt als Fürst Gremin in „Onegin“, den ich schon wenige Monate nach meiner Ankunft in Stuttgart tanzen durfte, habe ich geweint, weil viel schief gelaufen war.

Tänzer unterstützen, statt sie klein zu machen

„Ja, Reid, das war nicht so toll“, sagte John, lobte aber gleich das, was ich in seinen Augen gut gemacht hatte - und schickte mich dann ab in den Ballettsaal zum Arbeiten. „Nächstes Mal geht es besser“, sagte er. Und tatsächlich lief bei meinem zweiten Auftritt, als ich spontan in New York für Jan Stripling einspringen musste, alles bestens. In wenigen Minuten hat er mich total erleichtert, hat den Druck von mir genommen und mir gezeigt, dass er an mich glaubt. Von John habe ich gelernt, dass man Menschen aufbauen, unterstützen muss, statt sie zu Schneckchen zu machen. Wer an sich selber glaubt, kann auf diesem Fundament ein schönes Haus bauen. Wer ohne Angst auf die Bühne geht, dem ist alles möglich.“

Tänzer und Ballettdirektor

Der Kanadier Reid Anderson kam 1969 als Tänzer zum Stuttgarter Ballett. Von 1987 bis 1989 leitete er das Ballet British Columbia,dann wechselte er in gleicher Position ans Nationalballett von Kanada. Von 1996 bis 2018 war er Ballettintendant in Stuttgart und hat Choreografen wie Marco Goecke, Christian Spuck, Demis Volpi, Edward Clug, Kevin O’Day, Mauro Bigonzetti und Wayne McGregor gefördert.

60 Jahre Stuttgarter Ballettwunder

In einem besonderen Angebot für unsere Digital-Plus-Abonnenten machen wir die spannende Geschichte des Stuttgarter Balletts lebendig. Im Dialog mit Zeitzeugen und einer jungen Generation wird anschaulich, wie sich die Kompanie an die Weltspitze tanzte und dort hält. Mit diesen Artikelserien feiern wir das Jubiläum des Stuttgarter Balletts:

Als das Wunder wahr wurde Wir haben im Archiv nach Erinnerungen an seinen Erfinder John Cranko gesucht und eine 2007 veröffentlichte Interview-Serie mit Weggefährten des Choreografen entdeckt.

► Ray Bara Lesen Sie hier, wie Ray Bara seine Wohnung für John Cranko räumte.

► Reid Anderson Wie Eiskunstlauf den Tanz inspirierte: Lesen Sie hier Reid Andersons Erinnerungen

► John Neumeier Bereit für Rebellion und Experimente: Lesen Sie hier John Neumeiers Erinnerungen

► Gundel Kilian Wer einfach drauflos knipste, flog raus: Gundel Kilian erinnert sich

► Richard Cragun Lesen Sie hier, was der 2012 verstorbene Tänzer Richard Cragun über Crankos britischen Geschmack sagte.

► Birgit Keil Lesen Sie hier, wie Birgit Keil zu Crankos „Baby-Ballerina“ wurde.

► Friedrich Lehn Wie Cranko Stau zu Tanz machte: Friedrich Lehn erinnert sich

► Marcia Haydée Lesen Sie hier Marcia Haydées Bericht von ihren ersten Auftritten in Stuttgart.

► Egon Madsen Lesen Sie hier Egon Madsens Erinnerungen an eine besondere Party in New York.

► Georgette Tsingurides Lesen Sie hier Georgette Tsingurides’ Erinnerungen an Zigaretten, Hunde und kleine Feuer im Ballettsaal.

► Fritz Höver Lesen Sie hier, was der 2015 verstorbene Gründer der Noverre-Gesellschaft mit Cranko auf Reisen erlebte.

► Jürgen Rose Lesen Sie hier, wie John Cranko Zeichnungen des Bühnenbildners zerriss.

► Vladimir Klos Lesen Sie hier Vladimir Klos Erinnerungen an die letzte Tournee mit John Cranko.

Forsythe, Kylián und Co Das Stuttgarter Ballett war schon immer eine Kompanie, die Tänzer stark gemacht hat. So stark, dass sie weltweit als Direktoren begehrt sind. Wir haben sie nach ihren Stuttgarter Wurzeln gefragt.

► Ivan Cavallari Sechs Fragen an den Direktor der Grands Ballets Canadiens in Montreal

► Sue Jing Kang Sechs Fragen an die Direktorin des koreanischen Staatsballetts

► Filip Barankiewicz Sechs Fragen an den Direktor des tschechischen Staatsballetts

► Marco Goecke Sechs Fragen an den Ballettdirektor am Staatstheater Hannover

► Christian Spuck Sechs Fragen an den Direktor des Balletts Zürich

► Bridget Breiner Fragen an die Direktorin des Badischen Staatsballetts

► Renato Zanella Fragen an den Direktor des Balletts an der Staatsoper Slowenien

► Eric Gauthier Fragen an den Leiter von Gauthier Dance

► Demis Volpi Fragen an den Direktor des Balletts am Rhein in Düsseldorf

Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.

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