Am 6. August wurde über Hiroshima eine Atombombe gezündet. Überlebende des Horrors berichten über ihr Leben im Schatten des massenhaften Sterbens.

Hiroshima - Die kleine Jizo-Statue aus Stein mit einem roten Lätzchen um den Hals ist nur wenige Schritte von dem Atombombendom in Hiroshima entfernt. Kosei Mito berührt die Schulter der japanischen Gottheit der Barmherzigkeit, die aussieht wie ein kleines Kind. „Fühlen Sie mal, die Oberfläche hier ist ganz glatt!“ Die Hitze der Bombe – 3000 Grad heiß – habe das verursacht. Alle Flächen, die nach oben zeigen, sind glatt und weich, die abgewandten Stellen noch so rau wie vor dem Abwurf der Atombombe.

 

73 Jahre ist es her, dass am 6. August um 8.15 Uhr morgens erstmals eine Atombombe direkt über einer Stadt gezündet wurde. Neun Tage später kapitulierte Japan und der Zweite Weltkrieg ging auch im Pazifik zu Ende. Im Gedenken daran versammeln sich jedes Jahr Tausende im Friedenspark in der westjapanischen Hafenstadt Hiroshima. Neben Politikern und Botschaftern aus aller Welt – darunter seit 2010 auch aus den USA – nehmen auch „Hibakusha“ daran teil. So nennt man die Überlebenden der Atombombe.

Über 350 000 Menschen hielten sich damals in Hiroshima auf, 140 000 Menschen starben bis Ende 1945 an den Folgen der Bombe. Seit Jahrzehnten berichten viele Hibakusha regelmäßig vor Schülern und Interessierten aus dem In- und Ausland von dem Grauen, das sie und ihre Angehörigen erlebten. Ihre Erlebnisse und Meinungen sind dabei sehr unterschiedlich.

Kosei Mito zeigt viele Details

Kosei Mitos Mutter war im vierten Monat mit ihm schwanger, als die Bombe 600 Meter über der Stadt explodierte. Heute ist er 72 Jahre alt und gehört zu den „In-Utero-Überlebenden“, wie er auf seinem Namensschild erklärt. Täglich ist er – im heißen Juli in Shorts und T-Shirt und braun gebrannt – im Friedenspark unterwegs. Neben ihm steht sein Fahrrad, an das er Plakate über die Folgen der Atombombe geklebt hat.

70 000 Personen aus 170 Ländern hat der frühere Oberschullehrer in den zwölf Jahren seit seiner Pensionierung geführt. Dabei zeigt er, was bei offiziellen Führungen außen vor bleibt, Details wie etwa einen eingravierten Kreis von zehn Zentimetern Durchmesser an einem Brückenpfeiler. Dort hätten die Amerikaner die Strahlung gemessen.

Mito will zu Diskussionen anregen und tut das für einen Japaner ungewöhnlich direkt. „Die Atombombe war Völkermord, ein Experiment der USA. Sie wollten für eine Konfrontation mit den Sowjets bereit sein“, sagt er und beklagt die Unwissenheit seiner Landsleute. Die Schüler würden heute gerade noch das Datum lernen. „Wenn Leute aus Hiroshima ins Ausland gehen und darauf angesprochen werden, haben sie keine Ahnung!“

Der Vater hat nie über die Bombe gesprochen

Japan wolle verstecken, was im Zweiten Weltkrieg passiert sei, die eigenen Verbrechen genauso wie die Angriffe. Bilder von missgebildeten Babys, die nach den Atombomben auf die Welt kamen und konserviert wurden, sowie Puppen von Opfern, von deren Gliedmaßen die Haut in Fetzen herabhängt, seien aus dem Friedensmuseum entfernt worden. Ein Kurator habe ihm gesagt: „Die Aufgabe des Museums ist es nicht, ein Gefühl für das Ausmaß des Horrors zu verbreiten.“ Mito schüttelt den Kopf. „Das ist doch unglaublich!“

Mitos Mutter lebt noch heute, sie ist 100 Jahre alt. Sein Vater sei 93 Jahre alt geworden. Er war traumatisiert und habe über die Bombe nie mehr ein Wort verloren, erzählt er. Gesundheitlich kam Mitos Familie trotzdem glimpflich davon.

„Ich hatte das Gefühl, es gibt keinen Gott“

Ganz anders erging es Setsuo Uchino aus Nagasaki. Dort warfen die Amerikaner am 9. August um 11.02 Uhr eine zweite – und bisher die letzte – Atombombe auf eine Stadt ab. Viele von Uchinos Familienmitgliedern überlebten zwar 1,8 Kilometer vom Hypozentrum entfernt. Doch sie waren danach oft krank und starben jung. Der jetzt 74-Jährige Uchino war beim Bombenabwurf erst ein Jahr und neun Monate alt. Seine Familie erzählte ihm später von verkohlten Leichen, Menschen ohne Kopf und solchen, bei denen die Druckwelle die Eingeweide aus dem Körper gedrückt hatte.

Beinahe wäre er selbst längst nicht mehr auf der Welt. Wasser und Lebensmittel waren so knapp, dass seine Mutter sich mit ihm und zwei Geschwistern von einem Berg in die Tiefe stürzte. Ein Bambushain federte den Aufprall ab, sie überlebten. Das habe seine Mutter als Zeichen genommen, dass sie weiterleben sollten. Eine Woche später fand der schwer verletzte Vater, dessen Arme verbrannt waren, seine Familie wieder.

Einige Jahre später hätten sich plötzlich Leukämie-Fälle gehäuft. Auch sein bester Freund Makoto sei erkrankt. „Ich habe viel geweint, weil er so schwach war“, erinnert sich der Senior, auffällig gekleidet in weißer Hose mit blauem Hut. Es sollte nicht der letzte Trauerfall bleiben. Seine Schwester starb mit 34, seine Mutter mit 54 Jahren. „Ich fühlte mich so hilflos, hatte das Gefühl, dass es keinen Gott gibt.“ Die zwei Brüder, die nach dem Krieg auf die Welt kamen, starben mit 59 und 64 Jahren, beide an Krebs. Uchino, der im Luftschutzkeller schlief, als die Bombe fiel, verlor als Kind zeitweilig sein Gehör, litt an Nasenbluten und einer schweren Lungenkrankheit. Als Erwachsener überlebte er Prostatakrebs.

Der Wunsch nach einer Welt ohne Atomwaffen

Nicht nur in seiner Erzählweise – Uchino spricht ernst und verhalten – auch in der Frage nach der Schuld unterscheidet er sich von Mito. „Das ist eine schwierige Frage“, sagt Uchino und lächelt verlegen. „Ich hege keinen Groll gegen die Amerikaner, das war die Entscheidung von einigen wenigen Leuten an der Spitze, und auch keinen gegen die japanische Führung.“ Das sieht Mito völlig anders: „60 Prozent unserer Soldaten sind verhungert, aber das schreiben die Medien hier nicht.“

Bei allen Unterschieden sind sich die Männer einig: Sie wollen eine Welt frei von Atomwaffen, aber auch frei von Atomkraft schaffen. Im Hinblick auf die nuklearen Ambitionen des Nachbarn Nordkorea appellieren sie an die Zusammenarbeit in Asien. „Durch die Atombomben wurde so viel Leid verursacht – physisch und mental“, sagt Uchino. „Ich will eine friedliche Welt schaffen.“